Geschichte mit Gott? – Antrittsvorlesung von Prof.in Dr. Daniela Blum
Seit einem Jahr sind Prof.in Dr. Daniela Blum (Mittlere und Neuere Kirchengeschichte mit Kirchlicher Landesgeschichte) und Prof. Dr. Alexis Fritz (Moraltheologie) nun Lehrstuhlinhaber*innen an der Theologischen Fakultät Freiburg. Am 17. Oktober lasen beide ihre gemeinsame Antrittsvorlesung. Unter den aufeinander bezogenen Titeln „Geschichte mit Gott ?" und „Ethik ohne Gott ?" zeigten sie die Sinnhaftigkeit und Dimensionalität des Religiösen in ihrer jeweiligen Disziplin auf. Daniela Blum hat anknüpfend an die Antrittsvorlesung für uns noch einmal erläutert, weshalb die historische Beschäftigung mit religiösen Bedeutungswelten und Praktiken – also der Betrachtung einer Geschichte von Menschen mit Gott – gewinnbringend für die Theologie ist.

Fotos: Roberto Ciciarello
Im Augustinermuseum Freiburg steht eine spätmittelalterliche Christus-Johannes-Gruppe (1320/30). Sie zeigt den Lieblingsjünger angelehnt an die Brust Jesu. Die spätmittelalterliche Figurengruppe ist in der johanneischen Schilderung des Abendmahls (Joh 13, 23-26) biblisch vorgeformt: Der Jünger, den Jesus liebte, liegt im Abendmahlssaal an seiner Seite und legt im Rahmen der Voraussagung des Verrats seinen Kopf an Jesu Brust. In ihrer regionalen und zeitlichen Verbreitung sind die plastischen Christus-Johannes-Gruppen begrenzt: Aus ihrer Blütezeit (Ende des 13. bis Mitte des 14. Jahrhunderts) haben sich etwa 40 Bildwerke erhalten, die fast alle dem schwäbisch-alemannischen Raum entstammen. Für die Freiburger Gruppe ist die Herkunft aus dem Zisterzienserinnenkloster Wald bei Meßkirch bezeugt. Wie die Mehrzahl der Werke geht sie wohl auf das Urbild eines Meisters Heinrich von Konstanz zurück.[i]
Christus und der Lieblingsjünger sitzen dicht beieinander. Der Kopf des Johannes’, wie die Tradition ihn nannte, ist an die Brust Jesu gelehnt, dieser wiederum hat eine Hand fürsorglich auf die Schulter seines Freundes gelegt. Die Falten ihrer Gewänder gehen ineinander über und verlaufen im gleichen Rhythmus, die Beine berühren sich, die Figuren verschmelzen optisch miteinander. Die beiden rechten Hände waren ursprünglich ineinander verschränkt. Eine gefasste Version aus derselben Konstanzer Werkstatt zeigt die beiden verschränkten Hände; sie steht bis heute im Heiligkreuztaler Münster.
Wenn Theologie, wie Saskia Wendel definiert, „eine religiös sich verstehende Lebenspraxis coram deo“ reflektiert, „eine Lebenspraxis, die auf Gott vertraut und auf die Zusage von Heil, Befreiung und Vollendung hofft“[ii], dann macht eine solche Christus-Johannes-Gruppe jenseits der rein künstlerischen Betrachtungsebene eine Glaubensaussage in ihrer Zeit. Der Bildtypus der Johannesminne zeigt einen ruhigen Moment der Verbundenheit zwischen zwei Gefährten. Gleichzeitig aber geraten die körperlichen und geschlechtlichen Bezüge gewaltig in Bewegung. Johannes ist nach mystischem Verständnis des Mittelalters als „jungfräulicher“ Lieblingsjünger mit Jesus dargestellt: Wie eine „Braut“ ruht er in seiner sanften, weichen Gestalt an der Brust des Herrn, ja verschmilzt mit ihm. Bildwerke dieser Art sind vor allem aus südwestdeutschen Frauenklöstern überliefert, wo die Frauen offensichtlich den männlichen jungfräulichen Jünger Johannes als Vorbild für ihre virginitas und ihre Brautmystik zu Christus nahmen. Die Geste der verschränkten Hände ist ein Hochzeitssymbol.[iii] Die Skulptur kann – wie die Frauenmystik insgesamt – als Rezeption des Hohenliedes und seiner Liebeslyrik verstanden werden. In der ‚Jungfrau‘ Johannes fanden die Nonnen das ersehnte Objekt ihrer Identifikationsbereitschaft, in der Gleichsetzung mit ihm konnten sie sich der zärtlichen Fürsorge ihres Gemahls im Himmel versichern. Wir haben es also mit einer mehrfachen Dynamisierung eines alttestamentlichen Weisheitstextes im Spiegel einer neutestamentlichen Abendmahlsszene in der Rezeption eines spätmittelalterlichen Frauenklosters am Oberrhein zu tun. Auf der künstlerischen Ebene wird ein byzantinischer Bildtypus rezipiert, der über Italien und die Alpen an den Oberrhein gelangte. Auf der bildlichen Ebene ist schließlich auch an ein Mutter-Kind-Verhältnis zu denken: Das Kind ruht an der Brust der Mutter. Mit dieser Interpretation wird nicht nur das Geschlecht des Johannes als Braut, sondern auch von Jesus als Mutter fluide. Man könnte an dieser einen Figurengruppe eine vielfältige entangled history, eine Verflechtungsgeschichte schreiben.
An diesem und anderen Beispielen zeigte ich in meiner Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg, dass die Hinwendung zu soziokulturellen Aspekten und den religiös-symbolischen Erfahrungs-, Sinn- und Bedeutungswelten des Menschen in Gegenwart und Geschichte wichtig ist. Sie sind im Sinne der Theologie Marie-Dominique Chenus[iv] als theologischer Ort zu lesen und wahr- und ernst zu nehmen.[v] Die religiösen Praktiken und Körpererfahrungen, Orte und Materialitäten, Rituale und Vollzüge von Menschen jenseits des Amts und der Theologie können im Sinne einer historischen „Leutetheologie“[vi] und im Sinne religiöser Selbst- und Weltdeutungen analysiert und kulturwissenschaftlich fruchtbar gemacht werden. Dann entsteht eine historische Theologie jenseits eines Eliten- und Institutionendiskurses, eine Theologie, die historisch glaubende Menschen ernst nimmt, die historisch glaubenden Menschen ihren Gott lässt – eine Geschichte mit Gott.
[i] Vgl. die digitale Objektbeschreibung bei Detlef Zinke, Christus-Johannes-Gruppe, 1320/30, https://onlinesammlung.freiburg.de/de/object/Group-of-figures%20-%20Oberschw%C3%A4bisch%20-%20Group-of-Christ-and-St-John-the-Evangelist/735078D94438707EA16F2E83BAE85C9B [17.10.2025]. Einer meiner Vorgänger auf dem Lehrstuhl hat sich ebenfalls mit dem Objekt beschäftigt: Heribert Smolinsky, Christus-Minne und neue Rationalität – Theologie und Bildung, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Kirche, Frömmigkeit und Theologie im 12. Jahrhundert. Beiträge zu Heinrich dem Löwen und seiner Zeit, Wolfenbüttel 1996, 45–62. [ii] Saskia Wendel, In praktischer Hinsicht das Leben als Ganzes deuten. Ein Vorschlag zum Redigieren der Metaphysik, in: Dies. / Martin Breul, Vernünftig glauben – begründet hoffen. Praktische Metaphysik als Denkform rationaler Theologie, Freiburg i. Br. 2020, 17–155, hier 142. [iii] Vgl. Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen. 1050 bis 1380. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2014, Nr. 57, 291–297. [iv] Vgl. M.-Dominique Chenu, Une école de théologie. Le Saulchoir, Paris 1985 [Erstveröffentlichung 1937]. [v] Vgl. Daniela Blum, Kirchengeschichte als Leutetheologie. Religiöse Selbst- und Weltdeutungen in der Vergangenheitsform“, in: Saskia Wendel / Gunda Werner / Jessica Scheiper (Hrsg.), Ewig wahr? Zur Genese von Glaubensüberzeugungen und ihrem Anspruch auf Wahrheit und Unveränderlichkeit – ein interdisziplinärer Diskurs (Quaestiones Disputatae 332), Freiburg i.Br. 2023, 217–231. [vi] Christian Bauer, Leutetheologien, ein locus theologicus? Ein kartographischer Vorschlag mit M.-Dominique Chenu und Michel de Certeau, in: Agnes Slunitschek / Thomas Bremer (Hrsg.), Der Glaubenssinn der Gläubigen als Ort theologischer Erkenntnis. Praktische und systematische Theologie im Gespräch (Quaestiones disputatae 304), Freiburg i. Br. 2020, 35–68; Monika Kling-Witzenhausen, Was bewegt Suchende? Leutetheologien – empirisch-theologisch untersucht (Praktische Theologie heute), Stuttgart 2020.
Daniela Blum
Daniela Blum ist seit dem Wintersemester 2024/25 Professorin für MNKG. Davor war sie Professorin für Kirchengeschichte an der RWTH Aachen und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Diözesanmuseum Rottenburg. Promoviert wurde sie in Tübingen mit einer Arbeit zu Mehrkonfessionalität in der Frühen Neuzeit. Zur Zeit interessiert sie sich für mittelalterliche Hagiographien und Körperkonzepte sowie für eine Kirchengeschichte bottum up des 19. Jahrhunderts.
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