Mein Thema und Ich – Antonia Lelle

Wie funktioniert Seelsorge, wenn nicht nur Theolog*innen sie gestalten, sondern ganz unterschiedliche Berufsgruppen gemeinsam Verantwortung übernehmen? Damit hat sich Antonia Lelle in ihrer Dissertation beschäftigt. Unter dem Titel „Macht's die Mischung?“ erforschte sie, wie multiprofessionelle Territorialseelsorge in der Praxis gelingt. Uns hat sie erzählt, wie das Thema sie gefunden hat, was sie beim Schreiben motiviert hat – und warum ihre Ergebnisse für die Zukunft pastoraler Arbeit wichtig sind.

  1. Wie hat das Thema dich gefunden?

Ziemlich zufällig, bei der Lektüre der soziologischen Abhandlung Die letzte Stunde der Wahrheit. Darin argumentierte Armin Nassehi ziemlich plausibel für multiprofessionelle Teams als zukunftsfähigen Arbeitsmodus in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Zur selben Zeit wurde multiprofessionelle Zusammenarbeit (ab sofort abgekürzt als MpZ) auch zunehmend als Zukunftsvision für pastorale Arbeit in der Kirche vor Ort in verschiedenen bistumsstrategischen Prozessen hörbar. Mein Gedanke war damals: Wenn Soziologie und Kirche auf dasselbe Pferd setzen, ist das für eine Pastoraltheologin ein hinreichender Grund, noch einmal genauer hinzuschauen. Mein anfängliches Interesse lag dabei schlicht und ergreifend bei der Frage, ob sich die Kirche hier nur eines hippen Begriffs bedient und im Grunde weitermacht wie bisher – oder ob hier tatsächlich so etwas wie Kirchenentwicklung angestoßen wird.

  1. Was findest du daran so faszinierend?

Ich habe recht schnell festgestellt, dass mit dem Thema MpZ in der pastoralen Praxis viel mehr angesprochen ist als nur eine schlichte Veränderung in der Personalstruktur. Selbstverständlich rückt mit der Implementierung von MpZ vordergründig eben jene Veränderung in den Blick: die Erweiterung klassischer Pastoralteambesetzungen um nichttheologische oder religionspädagogische Professionen. Welche neuen Professionen dies sind, ist relativ variabel; zumeist handelt es sich jedoch um sozialarbeiterische, pädagogische oder künstlerische Professionen. Blickt man jedoch auf die alltäglichen Praktiken dieser neuen Pastoralteamkonstellationen, wird schnell deutlich, dass durch MpZ an den zentralen Strukturen kirchlicher Praxis (Macht, Kirchenverständnis, Seelsorgeverständnis, Transformationsgestaltung) gebohrt wird. Interessanterweise geschieht das in der Kirche vor Ort nicht mit viel Getöse oder normativ aufgeladenem Programm, sondern verhältnismäßig leise und im Tun. Genau das macht für mich die Beschäftigung mit dem Thema so spannend: Sie ermöglicht die Auseinandersetzung mit neuen Praktiken, die – wie Hans Rusinek es formuliert – „die Basis von großen Strukturen und damit auch die Basis von ihrer Veränderung sind.“[1]

  1. In welchem Fach konntest du mit dem Thema andocken?

Ich habe meine Arbeit in der Pastoraltheologie verortet, genauer in einer pragmatistisch ausgerichteten, angewandten Pastoraltheologie. Eine solche Form der Pastoraltheologie beschäftigt sich mit konkreten Problemen kirchlicher Praxis, sucht kollaborativ und experimentell nach Lösungen und fördert ein wechselseitiges Lernen von Theorie und Praxis. Dabei fließen auch nichttheologische Perspektiven, etwa aus Soziologie und Organisationsentwicklung, mit ein. Ziel ist eine theologisch fundierte und gegenwartsfähige Kirchenentwicklung. Meine Forschungsfrage nach dem Funktionieren von MpZ in der Territorialseelsorge ließ sich an diesem Forschungsansatz gut andocken, da sie ebenfalls das Erforschen und Analysieren wirkungsvoller Lösungen kirchlicher Praxis in den Fokus der Untersuchung stellt.

  1. Welche wertvollen Entdeckungen hast du beim Schreiben gemacht?

Dass im ausgiebigen Beobachten alltäglicher Praktiken enormes Erkenntnispotenzial steckt. Ich war bei meinem Dissertationsprojekt mit einem ethnografischen Studiendesign im Feld tätig. Konkret habe ich drei multiprofessionell aufgestellte Pastoralteams aus den Bistümern Speyer, Limburg und Rottenburg-Stuttgart mehrere Tage lang in ihrem normalen Arbeitsalltag teilnehmend beobachtet. Dabei habe ich Feldnotizen über ihre Interaktionen angefertigt, Felddokumente und Fotomaterial gesammelt und zusätzlich einige Teammitglieder mal spontan, mal leitfadengestützt zu ihrer Kooperationspraxis interviewt. Ziel war es, durch die undogmatische Kombination verschiedener Erhebungs- und Auswertungsmethoden möglichst viele Facetten der sozialen Praktik MpZ abzubilden. Dabei zeigte sich, dass es nicht immer ausgefallene und neuartige Orte braucht, um interessante und innovative Muster zu beobachten; erkenntnisreich ist selbst die Diskussion um die Erbsensuppenherstellung beim Klosterfest.

  1. Was hat Dir geholfen, durchzuhalten und mit der Arbeit fertigzuwerden?

Geholfen haben mir vor allem die Rückendeckung, das Zutrauen und das Mitdenken von Personen, die mich während des Schreibprozesses begleitet haben. Ausschlaggebend waren für mich solche Sätze wie der eines Mitdoktoranden, der in einem Kolloquium zu mir sagte: „Eigentlich liegt doch jetzt alles auf dem Tisch. Mach den Sack zu.“ Sie haben mir geholfen, der Abgabe mental und schließlich auch faktisch ein großes Stück näherzukommen. Nützlich war zudem die Bereitschaft, den eigenen Arbeitsmodus flexibel den unterschiedlichen Phasen anzupassen, die eine Dissertation so mit sich bringt. Am Anfang der Arbeit, bei der Themenfindung und beim Zuschneiden des Zugriffs, war für mich zum Beispiel der Austausch mit möglichst vielen Praktiker*innen und Fachpersonen wesentlich. Das kostet gerade am Anfang viel Überwindung. Ich konnte in diesen ersten Gesprächen nicht nur mehr über die Alltagsrelevanz des Themas lernen, sondern auch üben, über das Gelernte und Erforschtes geordnet zu sprechen – eine tolle Voraussetzung, um danach auch strukturiert darüber schreiben zu können. Beim anfänglichen Schreiben waren mir wöchentliche Co-Working-Termine mit Mitdoktorand:innen besonders wichtig. Irgendwann waren es eher gemeinsam organisierte, punktuelle Schreibwochen, die weiterhalfen, und am Ende eher der Rückzug an den heimischen Schreibtisch – um nur ein paar Etappen zu nennen.

  1. Was wird die Leser*innen vermutlich überraschen?

Überraschen könnte, dass sich das erste Viertel meiner Arbeit ausschließlich mit Anlässen, Formen und Wirkungen von MpZ in Anwendungsbereichen des Gesundheits- und Bildungssektors beschäftigt. Es handelt sich dabei um Felder wie Ganztagsschulen oder die stationäre Gesundheitsversorgung auf Palliativstationen. In diesen Bereichen wird die multiprofessionelle Arbeitsform seit Jahrzehnten politisch gefördert, verstärkt praktiziert und in empirischen Studien untersucht. Diesen Erfahrungsvorsprung im Praktizieren und Erforschen von MpZ habe ich nutzbar gemacht, indem ich für meine eigene Studie im kirchlichen Kontext inhaltlich, aber auch methodisch fremdlernte. Denn wo systemisch ähnliche Herausforderungen bestehen, lässt sich meist auch von den Lösungen der anderen etwas lernen.

  1. Mit wem würdest Du Dich gerne mal über Deine Arbeit austauschen – und warum?

Multiprofessionelle Zusammenarbeit ist für mich ein wichtiges gesellschaftliches Querschnittstool, das auf gegenwärtige Herausforderungen – etwa die Forderung nach mehr Ganzheitlichkeit in der Begleitung von Menschen oder nach größerer Inklusion – reagieren kann. Dies verschafft dem Thema ein gutes Image: Wird der Begriff in Strategiedebatten verwendet, nicken meist zahlreiche Menschen zustimmend. Interessanterweise wird dabei verhältnismäßig wenig darüber gesprochen, wie MpZ denn im jeweiligen Kontext konkret geht. Angesprochen sind dabei für mich u.a. Fragen wie: Welche multiprofessionellen Kooperationsanlässe sehen wir? Welche Rahmenbedingungen sind für das Gelingen von MpZ wichtig? Welche Konfliktmuster treten häufig auf? Welche Kompetenzen werden von den einzelnen Akteur:innen verlangt? Und welche Formen der Kooperation sind für welches Problem geeignet? Ich hätte deshalb Lust auf einen kontextübergreifenden Austausch mit Vertreter:innen personenbezogener Dienstleistungsorganisationen, der sich dem Entwickeln von Trainingsformaten für multiprofessionelles Kooperieren widmet. Denn eines hat meine Beschäftigung mit dem Thema eindeutig gezeigt: Ein Kollegium mit verschiedenen Professionen – also eine multiprofessionelle Konstellation – garantiert noch keine multiprofessionelle Zusammenarbeit. Diese muss eigens initiiert und trainiert werden.

  1. Wo könnten Deine Erkenntnisse weiterhelfen – und was würde sich damit ändern?

Meine Ergebnisse liefern empirisch fundierte Einblicke in die konkrete Praxis von MpZ in der katholischen Territorialseelsorge – einem Feld, das bisher kaum erforscht war. Besonders wertvoll sind diese Befunde, weil sie handfeste Geschichten multiprofessioneller Praxis bereitstellen, die in den normativ aufgeladenen Strategiedebatten zum Thema eine wichtige Ergänzung darstellen. Sie erden nicht nur die Diskussion und helfen damit beim Formulieren realistischer Ziele und Wunschwirkungen, sondern liefern auch konkrete Handlungsorientierungen für die Implementierung und Optimierung von MpZ in der Territorialseelsorge. Ändern könnte sich damit zum Beispiel, dass die Förderung von MpZ in der Kirche künftig bedeutet, Coachingangebote und Räume bereitzustellen, in denen die immer größer und diverser werdenden Pastoralteams üben können, wann und wie sie (nicht) im Team arbeiten und wie sie dadurch die Qualität von Seelsorge steigern können.

  1. Die Arbeit in sieben Hauptsätzen.

Zwar ist die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen in der katholischen Kirche historisch gewachsen, doch blieb sie lange Zeit mehr ein Nebeneinander als ein wirkliches Miteinander. Das ändert sich aktuell mit der Einführung multiprofessioneller Teams. Hinter den multiprofessionellen Bemühungen stehen einerseits der steigende Nachwuchsmangel in den klassischen pastoralen Berufen, andererseits die Erkenntnis, dass qualitativ hochwertige Seelsorge vielfältige fachliche Kompetenzen erfordert. Die Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie multiprofessionelle Kooperation in der Territorialseelsorge tatsächlich funktioniert, und entwickelt daraus Perspektiven für die Praxis. Aufbauend auf Erfahrungen in den Feldern Bildung und Gesundheit, in denen multiprofessionelle Arbeitsformen in den vergangenen Jahren zum Standard wurden, wird die Zusammenarbeit von drei multiprofessionellen Pastoralteams in den Diözesen Speyer, Limburg und Rottenburg-Stuttgart detailliert analysiert. Dabei werden neuralgische Punkte sichtbar, die Impulse für die Weiterentwicklung kirchlicher Praxis liefern. Insgesamt zeigt sich, dass MpZ mehr ist als eine Personalstrategie: Sie wirkt als kultureller Veränderungsimpuls, der Rollen, Machtverhältnisse, das Selbstverständnis und die Ausrichtung kirchlicher Pastoral nachhaltig prägen kann.

 

[1] Hans Rusinek, Work-Survive-Balance, 2023, Freiburg 17.

Antonia Lelle

Antonia Lelle studierte Theologie in Saarbrücken, Rom und Freiburg und arbeitet seit 2019 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Uni Freiburg.

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