100 Jahre Caritaswissenschaft feiern – warum und was
100 Jahre Caritaswissenschaft - doch was wird gefeiert? Klaus Baumann ordnet für uns ein, wie das Forschungsfeld vor 100 Jahren an die Uni Freiburg kam, was seit dem passiert ist und wieso das Fach so bedeutsam ist.

Ein besonderes Institut
Als das Institut für Caritaswissenschaft mit Schreiben vom 03. April 1925 an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg errichtet wurde, erfüllte sich teilweise ein schon vor dem I. Weltkrieg immer wieder – sogar im Reichstag – vorgetragener Wunsch, die Tätigkeiten der Kirchen im Feld der Wohlfahrtspflege, von Caritas und Centralausschuss der Inneren Mission, wissenschaftlich zu beforschen und zu fördern. Die Dringlichkeit solcher universitären Forschung und Lehre trat in den frühen Jahren der Weimarer Republik mit der Entwicklung ihrer Sozialgesetzgebung ganz besonders zu Tage. Der Wunsch wurde nur teilweise erfüllt, weil 1) dem Gründungspräsidenten des Deutschen Caritasverbandes, Lorenz Werthmann, eher ein Institut mit 12 Kollegen vorgeschwebt hatte statt nur einer Professur mit ein bis zwei Mittelbau-Stellen; und weil 2) erst zwei Jahre später, 1927, an der Universität Berlin ein (entsprechendes evangelisches) Institut für Innere Mission und Ethik gegründet wurde.
In Freiburg öffnete die Theologische Fakultät mit dem viersemestrigen Studienprogramm der Caritaswissenschaft erstmals unter katholischen Fakultäten in Deutschland die Tore für die ordentliche Immatrikulation von Frauen, die diese Möglichkeit auch sofort rege nutzten – darunter Elisabeth Rahner, Schwester von Karl und Hugo Rahner.
Seine Doppelaufgabe
Das Forschungs- und Studienprogramm hatte von Anfang an eine doppelte Aufgabe: 1) die theologische Bearbeitung, Vertiefung und Erschließung der Glaubens- und Motiv-Quellen der Caritas, 2) die interdisziplinäre Behandlung ihrer Handlungsfelder einschließlich der professionellen, rechtlichen, ökonomischen und politischen Fragen ihrer Mitwirkung in der Wohlfahrtspflege der noch jungen Demokratie in Deutschland. Die Caritaswissenschaft erweiterte das Spektrum theologischer Disziplinen. Obwohl Papst Benedikt XVI. in der Enzyklika Deus caritas est (2005) auf der Basis des II. Vaticanums organisierte Caritas lehramtlich als unverzichtbares ekklesiales Strukturprinzip und Wesensvollzug der Kirche herausstellte, ist die Caritaswissenschaft bis heute nicht in der (römisch-weltkirchlichen) Ordnung des kanonischen Theologiestudiums verankert. Dies stellt kontinuierlich ein systemisches Problem für die Rezeption ihrer Forschung und Lehre in Theologie und Kirche dar – bis hin zur binnentheologischen lächelnden Infragestellung (des Sinns) des Faches.
Gegen den Strich
Nicht lächelte die nationalsozialistische Regierung ab 1933 hingegen: 1934 bereits wurde der erste Professor für Caritaswissenschaft, Franz Keller, in den Zwangsruhestand versetzt, ein Jahr später seinem Nachfolger Joseph Beeking die Lehrerlaubnis entzogen. Er musste aus Deutschland fliehen. Solches war bis dahin keinem Freiburger Theologie-Professor widerfahren – das Fach widersprach ganz offenkundig der nationalsozialistischen Politik und ihrer rassistischen, menschenverachtenden Ideologie. 1937 wurde auch der Dogmatiker Engelbert Krebs entlassen. Konsequent wurden 1938 die beiden einschlägigen Institute in Freiburg und Berlin von der Nazi-Regierung trotz Protests der Fakultäten und Kirchen unterdrückt. Wenn wir 2025 100 Jahre seit Gründung des Instituts für Caritaswissenschaft an der Uni Freiburg feiern, fehlen dazwischen rund 10 Jahre, bis es nach dem 2. Weltkrieg schrittweise wiederaufgebaut und nach Mitbetreuungen wieder mit einer Professur besetzt wurde.
Was die Caritaswissenschaft beforscht
Was ist der wissenschaftliche Gegenstand der Caritaswissenschaft? Mit „Caritas“ sind nicht einfach oder nur die verschiedenen Caritas-Organisationen gemeint. Diese Organisationen sind noch grundsätzlicher zu sehen als Teil von „caritas“ als der sozialen Sendung der Kirche mit allen Gläubigen und Mitmenschen in ihrer jeweiligen Zeit und Umwelt, mit besonderer Perspektive der leidenden Menschen, ihrer Nöte, Bedrängnisse, Bedürfnisse aller Art, und der Wege zu Hilfe, menschenwürdigen Lebensverhältnissen (frei, inklusiv, partizipativ) und Realisierung von Gerechtigkeit auf allen sozialen Systemebenen des „gemeinsamen Hauses“, wozu notwendig auch die ökologischen Grundlagen gehören. Die Realisierung dieser Sendung der Kirche (wie auch ihre Beforschung und wissenschaftliche Förderung) verstehen in Gesellschaft und Universität die allermeisten als relevante theologische Aufgabe; sie erwarten sie auch von einer gesellschaftsrelevanten Theologie, die sich nicht in eigenen, mitunter hermetischen Sprachspielen verliert. Sie verstehen ohne weiteres, dass die Kirche aus ihrem jesuanischen Ursprung heraus den Menschen dienen und Nächstenliebe nicht nur predigen, sondern selbst realisieren soll – nicht nur punktuell, sondern auch als Organisation und systemisch. Wenn das Credo des christlichen Glaubens zentral lautet, dass Gott die Liebe ist, dann hat die Kirche selbst eine „Sendung im Dienst der Liebe“ (Benedikt XVI.) – und alles kommt darauf an, dass die Kirche selbst „caritas“ ist bzw. wird.
Gefragt und angefragt
Insofern kann es paradox erscheinen, dass die Fachtagung zum Jubiläum nicht den Caritas-Charakter der Kirche untersucht, sondern die angefragte und gefragte Kirchlichkeit der Caritas in einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft. Das Paradox lässt sich noch nicht durch den Hinweis auflösen, dass dies den Transformationen von Gesellschaft und Kirche mit ihren Konflikten bis hin zum Bundesarbeitsgericht, Europäischen Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht wie auch den Schwächen des kirchlichen Arbeitsrechtes geschuldet ist. Hierin ist die Caritas (wie die Diakonie) in ihrer Kirchlichkeit sehr kritisch angefragt, und zwar in aller Regel zuletzt dann, wenn nicht transparent wird, dass sie wirklich den Menschen dient – den Menschen in Not, aber auch den Mitarbeitenden. Gefragt ist sie hingegen in der Hoffnung darauf, dass und überall da, wo sie dies erfahrbar realisiert. Das ist bei weitem leichter als Anspruch formuliert denn konkret realisiert. Zu vielfältig sind die geschichtlichen und kontextuellen Realisierungsbedingungen und -umstände. Sie erfordern sorgfältige interdisziplinäre, oft empirische Forschung und erfahrungsgesättigte, theologisch-hermeneutische Reflexion – das, was mit Caritaswissenschaft gemeint ist.

Klaus Baumann
Klaus Baumann ist seit Oktober 2004 Professor für Caritaswissenschaft und christliche Sozialarbeit an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität. Mehr zu ihm auf der Homepage: https://uni-freiburg.de/theol-cw/personen/klaus-baumann/
Weitere passende Beiträge
Diskutieren Sie mit uns!