„Krieg gegen die Mächte des Bösen“

Was ist das für eine Kirche, deren zentraler Vertreter, Patriarch Kyrill von Moskau, Putin die theologische Legitimation für seinen völkerrechtswidrigen Krieg liefert? Welche Theologie und welche Ethik stecken dahinter? Was wissen wir eigentlich von der orthodoxen Kirche? Um diese Fragen zu konturieren, führt Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ein Interview mit Dr. Stefanos Athanasiou von der Universität Fribourg.

„Krieg gegen die Mächte des Bösen“ – Interview zur theologischen Legitimation von Putins Krieg durch die Russisch-Orthodoxe Kirche

Der Krieg in der Ukraine hat – nicht nur für Theolog:innen – die Orthodoxie wieder ganz neu ins Zentrum des Interesses gerückt: Was ist das für eine Kirche, deren zentraler Vertreter, Patriarch Kyrill von Moskau, Putin die theologische Legitimation für seinen völkerrechtswidrigen Krieg liefert? Welche Theologie und welche Ethik stecken dahinter? Was wissen wir eigentlich von der orthodoxen Kirche? Um uns hier Klarheit zu verschaffen, spreche ich dazu mit Dr. Stefanos Athanasiou von der Universität Fribourg.

Wir haben uns bei einer Tagung getroffen, die vom 30. März bis zum 1. April 2022 in Rom stattfand zum Thema „Catholic and Orthodox Social Ethos after Laudato Si’. Christian Contributions to Civic Education in Europe.” Der Vergleich zwischen dem orthodoxen Sozialethos und der christlichen Sozialethik ist an sich schon spannend genug, er bekam aber noch einmal eine brisante Aktualität durch den Krieg in der Ukraine.

Herr Dr. Athanasiou, wie begründet der Patriarch von Moskau, Kyrill, seine Position zum Krieg Putins in der Ukraine?

Ich muss gestehen, dass ich seit den Anfängen dieses entsetzlichen Krieges in der Ukraine nicht damit gerecht habe, dass das Patriarchat von Moskau in Russland selbst, eine oppositionelle Stimme gegen die russische Politik im Bezug zum Ukrainekrieg sein würde. Für viele Kleriker würde dies außerdem einem martyrischen Selbstmord gleichkommen. Ich gestehe aber, dass ich damit gerechnet bzw. erwartet hatte, dass das russisch-orthodoxe Patriarchat von Moskau eine Position des betenden Stillschweigens eingenommen hätte. Man darf ja nicht vergessen, dass ein großer Teil der orthodoxen Gläubigen und des Klerus in der Ukraine zum Moskauer Patriarchat gehören, und die Menschen dort viele Opfer zu beklagen haben. Umso größer war für mich das Erstaunen bzw. das Entsetzen, als ich den Patriarchen von Moskau, Kyrill, gehört habe, dass er den Krieg sogar theologisch verteidigt und von einem „metaphysischen Kampf“ im Namen des Rechts und des Lichtes Christi gesprochen hat bzw. nach wie vor spricht. Diese Positionen des Patriarchen sind jedoch nicht neu und im gesamten gesellschaftspolitisch-theologischen Kontext der russischen Kirche zu sehen. Das Patriarchat von Moskau versteht sich schon seit langem als Bollwerk gegen die säkularen Kräfte in der Gesellschaft. Das Patriarchat möchte um jeden Preis verhindern, dass in Russland eine säkulare politische Elite an die Macht kommt und sich wieder die gleichen Ereignisse wie zur kommunistisch-säkularen antikirchlichen Zeit wiederholen könnten, in der die russische Kirche ohne Zweifel großes Leid erlitten hatte. In diesem Sinne versteht Moskau den Krieg als einen Krieg gegen die Mächte des Bösen bzw. der säkularen Welt, die die Kirche zerstören möchten. Dabei wird ein Feindbild gegen den Westen propagiert, der als Motor des Säkularismus verstanden wird. Wenn ich hier vom Westen spreche, meine ich den gesamten Westen, dem ja auch traditionell orthodoxe Länder angehören. In diesem Sinne beobachtet man auch innerhalb der Orthodoxen Kirche weltweit die Ereignisse in der Ukraine.

Wie stehen die anderen orthodoxen Kirchen, vor allem die in der Ukraine, dazu und wie ist deren Reaktion?

Die Ukraine ist in der Orthodoxie schon lange, bevor der Krieg angefangen hat, ein Thema. Es gab in der Ukraine drei orthodoxe Kirchen, von denen die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats innerhalb der orthodoxen Kirche anerkannt war. Neben dieser gab es noch die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchates und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche, die jedoch, wie gesagt, nicht anerkannt waren. Um eine kirchliche Harmonie und Einheit innerhalb der Orthodoxie in der Ukraine zu schaffen, hat sich die politische Führung der Ukraine an das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, den Ehrenvorsitz und höchste Appellationsinstanz innerhalb der Orthodoxie gewandt, mit der Bitte, Friedens- und Einheitsgespräche mit allen orthodoxen Kirchen in der Ukraine zu organisieren. Dieser Bitte ist das Ökumenische Patriarchat nachgekommen. Die Frucht dieser Gespräche war, dass eine Einheit zwischen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchates und der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche zustande gekommen ist. Man muss jedoch beachten, dass die Ukrainisch Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats nicht an den Gesprächen teilgenommen hat bzw. nicht teilnehmen wollte. Die neu entstandene Orthodoxe Kirche der Ukraine hat daraufhin vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel am 6. Januar 2019 die Autokephalie (Eigenständigkeit) zugesprochen bekommen. Daraufhin hat das Patriarchat von Moskau die Kommunionsgemeinschaft mit Konstantinopel einseitig unterbrochen. Moskau tut dies seitdem mit allen orthodoxen Kirchen, die die Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine anerkennen. Als das Patriarchat von Alexandrien und ganz Afrika etwa die ukrainische Kirche anerkannt haben, hat das Patriarchat von Moskau nicht nur die Kommunionsgemeinschaft mit Alexandrien unterbrochen, sondern auch neue russische Metropolien (Diözesen) in Afrika, im Kirchengebiet von Alexandrien, gegründet. Russland droht damit allen orthodoxen Kirchen, die die ukrainische Kirche anerkennen, dass diese nun ihrerseits von der russischen Kirche nicht mehr anerkannt werden und Russland die jeweiligen Gebiete als pastoral führungslos betrachtet. In diesem Sinne lässt sich ein kirchlicher Kolonialismus von Seiten Russlands mit Sorge beobachten. Bisweilen haben neben dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel, das Patriarchat von Alexandrien und ganz Afrika, die Orthodoxe Kirche von Zypern und die Orthodoxe Kirche von Griechenland die ukrainische Kirche anerkannt. Es versteht sich, dass diese Kirche mit großer Sorge und Entsetzen die Ereignisse in der Ukraine mitverfolgt und die Gedanken und Worte des Patriarchen von Moskau auf großes Missverständnis stoßen. Leider haben sich die anderen orthodoxen Kirchen nicht zu den Aussagen des Patriarchen Kyrill geäußert. Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche hat zwar auch ihr Entsetzen über den Krieg geäußert, jedoch bisweilen nicht den Mut gehabt, etwa die ukrainische Kirche zu unterstützen bzw. sich klar gegen die theologischen Äußerungen der Kirche von Russland zu stellen. Innerhalb der ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchates lassen sich seit dem Krieg Abspaltungstendenzen beobachten. So haben schon mehrere Priester und Bischöfe der ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchates aufgehört, des Patriarchen Kyrill im Gottesdienst zu gedenken. Wie sich diese Abspaltung weiter entwickeln wird, ist noch ungewiss.

Wie lassen sich diese Überlegungen einordnen in das Verständnis von Sozialethos, das in dem Dokument des ökumenischen Patriarchats von 2020 „For the Life of the World. Toward a Social Ethos of the Orthodox Church“ zum Ausdruck kommt?

Das Sozialethos-Dokument des Ökumenischen Patriarchates versteht sich als ein Beitrag zum Weg hin zu einem Sozialethos der orthodoxen Kirche für die Zukunft. Wenn man das Dokument studiert, sieht man, dass viele Vorurteile, die man gegen die orthodoxe Kirche gehabt hat, aufgehoben werden. Das Dokument verteidigt in diesem Sinne etwa die Werte der Menschenrechte. In diesem Geist verurteilt es jegliche Art der Verfolgung aus politischen, religiösen, sexuellen oder anderen Gründen und betont, dass diese Verfolgungen nicht mit dem orthodoxen Sozialethos und Glauben zu vereinbaren sind. Darüber hinaus bekennt es sich zu den Werten der Französischen Revolution und Aufklärung. Dies sind nur paar Beispiele aus dem Dokument. Eine Lektüre des Dokumentes ist sehr empfehlenswert und dies vor allem aus dem Grund, dass das Dokument „ein Kind“ der westlichen Orthodoxie ist, also von Theologinnen und Theologen verfasst worden ist, die vor allem aus westlichen Ländern stammen und somit eine neue Dimension in die orthodoxe theologische Welt hineinbringt. In diesem Sinne versteht das Dokument die westliche Kultur nicht als Antipol zur Orthodoxie, sondern als Ort, an dem die orthodoxe Kirche auf einen Boden stößt, auf dem sie wachsen und sprießen kann. Hier erkennt man sicherlich eine große Diskrepanz zwischen den Sichtweisen des Patriarchen von Moskau und den Gedanken und Überlegungen im Dokument.

Was war für Sie die wichtigste Erkenntnis aus dem Dialog mit der christlichen Sozialethik bei der Tagung in Rom?

Ich habe gemerkt, dass der orthodoxe Vorschlag eines Sozialethos, also die Anerkennung der Entwicklung des Ethos aus der Spiritualität heraus, mit einer gewissen Sympathie betrachtet wurde. In diesem Sinne verstehe ich auch den Vorschlag von Papst Franziskus, der in seiner Enzyklika Laudato si‘ ja auf die Sichtweisen des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios eingegangen ist und auch von seiner Seite einen asketischen Umgang vor allem im Bezug zur Umwelt betont. Dieser asketische Geist ist ja die Grundlage bzw. Frucht des spirituellen Lebens. Es geht in diesem Sinne nicht nur darum, die Symptome gesellschaftlicher Probleme wie Umweltverschmutzung zu bekämpfen, sondern eine spirituelle Umwandlung bei den Menschen herbeizurufen, um die Harmonie mit der Schöpfung wieder herzustellen.  Jedoch bin ich weiterhin auf zukünftige Treffen gespannt, um vertiefter die Bedeutung und Auswirkungen von Sozialethos und Sozialethik zu erforschen.

Um noch einmal zurückzukommen auf den Krieg in der Ukraine und seine „theologische“ Legitimation: Welchen gemeinsamen Beitrag können wir Christen für den Frieden leisten?

Ich glaube, es sind zu viele „leere“ Worte gefallen. Das Wort muss Fleisch annehmen, damit es in der Geschichte wirken kann. In diesem Sinne braucht man heute besonders auch auf kirchlicher Seite Menschen der Taten. Märtyrer:nnen des Glaubens. Martyrium in Sinne des richtigen Vorlebens unseres Glaubens in der Gesellschaft. Kirche und Glauben sind für viele viel zu sehr in das theoretische Abseits gefallen. Der christliche Glaube basiert auf der Liebe des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Wer sich von dieser aufopfernden Liebe entfernt und Theologie ideologisiert, um politische Ideen oder nationale Interessen durchzusetzen, trägt letztendlich nur dazu bei, dass Theologie und Kirche ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Der Frieden kann in diesem Sinne meines Erachtens nur dann wirklich kommen, wenn man nicht nur die Symptome des Krieges bekämpft, was sicherlich kurzfristig hilfreich sein kann, sondern man gemeinsam darüber nachdenkt, welchen spirituellen Beitrag wir als Christinnen und Christen leisten können, damit langfristig eine gesellschaftliche Umwandlung stattfinden kann.


Dr. habil. Stefanos Athanasiou, Dozent an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg, wurde im Oktober 2018, in der Kirche St. Demetrios in Zürich zum Priester geweiht. Zugleich erhielt er den Titel eines Erzpriesters und wurde zum Generalvikar für die orthodoxen Gemeinden des Ökumenischen Patriarchats in der Deutschschweiz durch Metropolit Maximos ernannt.

Ursula Nothelle-Wildfeuer

Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer, Inhaberin des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, forscht momentan u.a. zu Fragen nach dem Verhältnis von orthodoxem Sozialethos und christlicher Sozialethik, zu Fragen der Postwachstums- und Gemeinwohlökonomie und zu Entwicklungen im Kontext von KI und Arbeit 4.0.

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