The next step of Humanity. Menschsein am Ende der Optimierungsschleife?
Der schönste Körper, das erfolgreichste Business, der erholsamste Urlaub: Selbstoptimierung ist eine prägende Tendenz des 21. Jahrhunderts. Können selbstoptimierende Praktiken zum nächsten Schritt des Menschseins, dem next step of humanity, führen?
Tief in uns drin sind wir alle auf der Suche nach dem Gefühl der Richtigkeit, so der Entrepreneur, Lebens-Coach und selbsterklärte Visionär Robert Gladitz in einem seiner YouTube-Videos. In Verbindung mit den Liebsten um uns selbst herum, angekommen zuhause, in der Natur, unserem eigenen Rhythmus folgend. Der Suche nach einem solchen perfekten Leben stünde allerdings das Leben unserer gegenwärtigen Gesellschaft entgegen, das von blindem Konsum, Profitgier, Umweltverschmutzung, Tyrannei und Kriegen geprägt sei.
„Es ist Zeit für einen radikalen Schritt. Wir lassen alles hinter uns und brechen auf zu neuen Ufern, zu unserer bisher größten Mission: Orte zu schaffen, an denen wir Menschen wirklich so leben können, wie wir eigentlich designt sind, in der Natur, in Gemeinschaft, in Liebe, in Fülle, in Co-Creation, in einem Dorf, in einem Village, in einem Thrive Village: This is the next step of humanity.“1
Thrive Villages – Leben im Paradies oder ausgeklügeltes Geschäftsmodell?
Gladitz’ größere Vision hinter diesem “next step of humanity” war es, solche Thrive Villages an vielen Orten auf dem ganzen Globus zu errichten, so dass Aussteiger:innen und Digitalnomaden ihr Leben zusammen mit anderen Gleichgesinnten an einem solchen Ort führen könnten – per Mitgliedsgebühr, die wie bei einer Fitnessstudio-Kette den Zugang zu Einrichtungen an verschiedenen Orten ermöglicht. Jüngst wurde in der Süddeutschen Zeitung jedoch publik, dass die ersten und mittlerweile geschlossenen Aussteigerdörfer in Bali und Portugal in Wirklichkeit weniger Paradies, als vielmehr ein ausgeklügeltes und steueroptimiertes Geschäftsmodell waren, das auf der Zahlung äußerst hoher Mieten und Kautionen beruhte.2 Manche hatten für die Hoffnung auf ein Leben im vermeintlichen Paradies ihr Haus verkauft, zogen in die Fremde und blieben nach dem Ende des Projekts desillusioniert zurück. Interessant an diesem Beispiel ist vermutlich weniger, weshalb dieses Geschäftsmodell letztlich gescheitert ist, als vielmehr, wie die von Gladitz bespielte Sehnsucht nach der nächsten Stufe des selbstoptimierten Lebens und dem Ausbruch aus der als dystopisch erfahrenen Gegenwart einige Menschen zum Zurücklassen ihres alten Lebens veranlasst hat. Was kennzeichnet die Leitidee von Selbstoptimierung, die viele Menschen dazu bringt, an verschiedenen Stellschrauben des eigenen Selbst zu arbeiten und zugleich unermüdlich mit am Rad der menschlichen Optimierungsschleife zu drehen? Können selbstoptimierende Praktiken zum nächsten Schritt des Menschseins, dem next step of humanity, führen?
Selbstoptimierung – Kennzeichen einer Leitidee der Gegenwart
Selbstoptimierung ist eine prägende Tendenz des 21. Jahrhunderts und eine Leitidee der Gegenwart. Soziologisch betrachtet, lassen sich unsere Gesellschaften als Optimierungsgesellschaften bezeichnen – mit der Erwartung an jede Bürgerin und jeden Bürger, das Bestmögliche zu erreichen und aus sich selbst herauszuholen – durch Arbeit an den eigenen Kompetenzen, am Lebensstil und an der eigenen Persönlichkeit. Nach einer Definition der Soziologin Anja Röcke bedeutet Selbstoptimierung „allgemein, systematisch und mit spezifischen Mitteln an seinen Fähigkeiten, seinen Eigenschaften und seinem Aussehen zu arbeiten, um das bestmögliche Ergebnis zu erreichen.“3 Darin zeigt sich ein instrumentelles Selbstverhältnis, in dem das eigene Ich nicht als Zweck an sich gilt, sondern als Instrument zur Erreichung gewisser Ziele betrachtet wird, vorrangig sind diese Ziele Verwertbarkeit und Leistungssteigerung. Jedes Ergebnis kann und soll selbst wieder verbessert werden. Getrieben wurde diese Entwicklung in den letzten Jahren auch und vor allem von der rasanten technologischen Entwicklung, durch die technische Geräte, etwa Smartwatches, immer näher an unsere Körper gerückt sind. Digitale Plattformen wie Instagram, TikTok oder Fitness-Communities haben zudem die Möglichkeit eröffnet, die eigenen Leistungen online anderen zu präsentieren und somit zugleich das optimierte Selbst zu inszenieren.
Die Lebensbereiche, auf die sich selbstoptimierende Praktiken mittlerweile ausgeweitet haben, sind dabei vielfältig geworden: Körper, Psyche, Arbeitsprozesse, Lebensverhältnisse wie die eigene Wohnung, soziale Beziehungen, Spiritualität und Religion. Die Liste ließe sich problemlos erweitern.
Grundsätzlich gibt es nichts, was nicht dem Optimierungsimperativ unterliegen könnte.
Und doch wird es nur wenige Menschen geben, die sich in Gänze dieser Entwicklung unterwerfen. Vielmehr erscheint Selbstoptimierung bei einzelnen Individuen eher in hybrider Weise und in Verbindung mit anderen erstrebenswerten Lebenszielen wie Selbstachtsamkeit, Glück und Gesundheit.
Beim Gedanken an den schönsten Körper, die gesündeste Ernährung, den liebevollsten Partner, das erfolgreichste Business, die stilvollste Wohnung oder den erholsamsten Urlaub – Assoziationen, wie sie im Video der Thrive Villages auch von Gladitz‘ Partnerin Elina Miller hervorgerufen werden – wird zudem deutlich, dass Selbstoptimierung in ihrer Natur grundsätzlich endlos voranschreiten kann und jeder vermeintliche Endzustand wieder dem Imperativ unterliegt, weiter optimiert zu werden. Wann ist ein Körper, Partner, Business, Urlaub oder eine Wohnung jedoch jemals im bestmöglichen Zustand? Jedes mit Anstrengung erreichte Ziel wird wieder nur zum Zwischenschritt eines Lebens in der Optimierungsschleife.
Soziologische Perspektiven auf Selbstoptimierung: Singularisierung und Verfügbarmachung
In der Leitidee der Selbstoptimierung zeigt sich ein zentraler Wesenszug unserer gegenwärtigen Gesellschaft, nämlich die Singularisierung. Die spätmoderne Gesellschaft erklärt, so der Soziologe Andreas Reckwitz, anders als die Gesellschaften zuvor, das Besondere und Singuläre zum gesellschaftlichen Maßstab: etwa wie wir arbeiten, wie wir wohnen, wie wir unseren Körper betrachten, was wir konsumieren, welche Freundschaften wir pflegen, was wir essen oder wohin wir reisen. Alles, was wir tun und was unsere Identität bestimmt, soll außergewöhnlich, unverwechselbar, individuell sein. Das optimierte Ich steht im Vordergrund des eigenen Handelns, kuratiert und inszeniert das eigene Handeln und wirbt so um Aufmerksamkeit.4 Was dabei paradox ist: Auf der Suche nach unserer singulären Identität sind wir zugleich wieder Teil einer Masse der Einzigartigen, in der das Besondere weniger sichtbar wird. In dieser Masse geht es jedoch letztlich darum, die eigenen äußeren und inneren Werte im Wettbewerb mit anderen so zu verbessern, dass der eigene Marktwert und die eigene Verwertbarkeit steigen – sein eigenes Leben aus ökonomischer Perspektive zu betrachten.
Hinter diesem Versuch, das eigene Verhalten zweckrational und optimiert zu steuern, verbirgt sich ein Wesenszug der Moderne, durch den Dinge und Vorgänge kontrollierbar und somit beherrschbar gemacht werden.
Mit Hartmut Rosa könnte man eine solche Beherrschung spontaner Vorgänge auch als Verfügbarkeit beschreiben, die er als Grundmuster westlicher Gesellschaften bezeichnet. Mit einem Beispiel: Der spontane und unerwartete Schnee aus eigenen Kindheitserinnerungen wäre demnach unverfügbar, der Kunstschnee aus der Schneekanone im teuren Skiurlaub, welcher meteorologische Zufälle kontrollierbar machen soll, hingegen verfügbar.4
Letztlich kann man Selbstoptimierungspraktiken also als Möglichkeiten betrachten, die Verfügbarkeit von Gütern zu sichern: Den schönsten Skiurlaub zu erleben, die besten Freundschaften oder Beziehungen, den schönsten und fittesten Körper zu haben, über das ausgeglichenste Wesen oder die beste Karriere zu verfügen, bedeutet letztlich, dass ich mir all diese Güter in ihrer Optimalform verfügbar machen möchte.
Bei einer solchen konstanten Verfügbarmachung zentraler Lebensgüter geht nach Rosa jedoch die Weltbeziehung eines Menschen verloren – die Resonanz als schwingendes Gegenüber von Mensch, Welt und Mitwelt. Resonanz entsteht vielmehr, wenn ein Mensch auch dem Unverfügbaren und Überraschenden Raum lässt, nicht immer zweckorientiert handelt und sich in Genügsamkeit und Demut übt, wenn sich nicht jedes Lebensziel immer gleich erfüllt.
Menschliche Vulnerabilität und Gnade als christliche Antworten auf Selbstoptimierung
Der christliche Glaube hält diesem Leistungsimperativ, dass nur der außergewöhnliche, der erfolgreiche, starke und strahlende Mensch zählt, die Bedeutung menschlicher Verletzlichkeit entgegen, die konstitutiv zum Menschsein hinzugehört, mit all den biographischen Brüchen und Misserfolgen. In einer solchen Sichtweise geht es nicht darum, die Verletzlichkeit, die Brüche und Misserfolge zu kaschieren, sondern vielmehr darum, die eigene Gebrochenheit bewusst anzunehmen. Besondere Bedeutung erhält hier der Gedanke der Gnade: Diese verdeutlicht, dass der Mensch sich am Ende nicht selbst erlösen kann, sich allerdings auch nicht selbst erlösen muss.
Gnade steht im fundamentalen Widerspruch zur Leistung, zum Verdienst, zum Wettbewerb. Sie kommt von Gott und muss eben gerade nicht verdient werden.
Beim Blick auf das einzelne Individuum bleibt der christliche Glaube jedoch nicht stehen, sondern hat einen konstitutiv sozialen Charakter. Die eigene Gebrochenheit und Vulnerabilität ist immer aufgehoben in der Zuwendung zueinander und kreist nicht allein um sich selbst. Und diese Solidarität miteinander gilt insbesondere den Ausgegrenzten und Marginalisierten, den vermeintlich Unerfolgreichen und Nicht-Durchoptimierten.
Die nächste Stufe: des Menschseins oder der Menschlichkeit?
Den Leitsatz eines Lebens in den Thrive Villages, das angeblich den „next stage of humanity“ verkörpert, könnte man entweder als „nächste Stufe des Menschseins“ übersetzen – und wäre somit eben gerade bei der Grundhaltung, die das Phänomen der Selbstoptimierung prägt: das Menschsein selbst vermeintlich zu optimieren. Die alternative Übersetzung, den Kernauftrag des Menschen vielmehr darin zu sehen, die „nächste Stufe der Menschlichkeit“ zu erreichen, trifft hingegen vermutlich, worum es der christlichen Botschaft im Kontrast geht: nämlich das eigene Leben mit all seinen Höhen und auch den Tiefen aktiv anzunehmen und die eigenen Lebens-Widerfahrnisse nicht nur aus dem Blickwinkel der persönlichen Leistungsfähigkeit zu betrachten. Menschlichkeit auf eine neue Stufe zu heben, bedeutet zugleich, in dieser freien Annahme solidarisch mit den Mitmenschen zu handeln und dabei trotz mancher Widrigkeiten immer auch auf Gott zu vertrauen.
Quellenangaben
1 Vgl. Gladitz, Robert, thrive villages – Orte, an denen sich das Leben einfach richtig anfühlt, YouTube, 29.08.2021, https://youtu.be/VKy2ZtwU7hU, zugegriffen am 24.04.2023.
2 Cadenbach Christoph/Ludwig, Kristiana, Einmal Erleuchtung und zurück, Süddeutsche Zeitung, 30. März 2023, 3.
3 Röcke, Anja, Im Gespräch mit Ina Lohaus: Bestmöglich?! Idee und Praxis der Selbstoptimierung, in: Forschung & Lehre 4/2022, 294–295, hier 294.
4 Vgl. Reckwitz, Andreas, Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt am Main 2019.
5 Vgl. Rosa, Hartmut, Unverfügbarkeit, Frankfurt am Main 2020.
Lukas Schmitt
Dr. Lukas Schmitt hat zwischen 2005 und 2011 Anglistik, katholische Theologie, Wirtschaftswissenschaften und Philosophie der Religionen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und dem University College Dublin studiert. Seit 2017 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Christliche Gesellschaftslehre (Theologische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg).
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