Die Caritas-Legende? Zur sozialpolitischen Relevanz von Kirchenfinanzen

Der Staat finanziert ungerechtfertigterweise die Kirchen mit ihrer Caritas bzw. Diakonie und die Kirchen schreiben sich diese Form der Nächstenliebe ungerechtfertigterweise auf ihre Fahnen. So der Vorwurf vieler kirchenkritischer Positionen. Was ist dran an diesem Vorwurf?

Die Caritas-Legende

Einer der schärfsten Kritiker des gegenwärtigen Systems der Kirchenfinanzierung ist der Politikwissenschaftler und Publizist Carsten Frerk, der bereits in seinem sogenannten „Violettbuch Kirchenfinanzen“ (Frerk 2010) untersucht, wie der Staat – so seine Sichtweise – die Kirchen finanziere und darüber die Kirchen Bedeutung und Einfluss in Deutschland gewännen. Seiner Auffassung nach werden die Kirchen von staatlicher Seite privilegiert.

Die Kirchen verbreiteten den Eindruck – und das bezeichnet der von Frerk hierfür verwendete (und von Horst Herrmann stammende) Begriff der Caritas-Legende – als würden sie ihre sozialen Einrichtungen weitestgehend aus der Kirchensteuer finanzieren.

Die Ängste der Menschen, durch ihren etwaigen Kirchenaustritt müsse in absehbarer Zeit der evangelische Kindergarten um die Ecke oder das katholische Krankenhaus im Nahbereich schließen, seien bei Licht betrachtet völlig überflüssig, denn der Staat finanziere sowieso alles. Der kirchlichen Aussage, das caritative Engagement sei im Mittelpunkt der Kirche und im Zentrum des Glaubens verankert, entgegnet er: „Wer bezahlt denn diese ‚Nächstenliebe‘?“, um dann die Antwort zu geben; „Nach dem bisherigen Wissen ist anzunehmen, dass es nicht die Kirche selbst ist.“ (Frerk 201, 216)

Nicht Privilegierung, sondern eine Frage der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls

Unter den Finanzierungsquellen der Caritas für soziale Dienstleistungen werden neben den Eigenbeiträgen der Leistungsempfänger und den Eigenmitteln der Caritas sowie Spenden und Stiftungen u.a. auch die öffentlichen Zuschüsse, also die Zuwendungen von EU, Bund, Ländern und Kommunen genannt. Die Leistungen der Orts-Caritasverbände werden ,im staatlichen Auftrag‘ erbracht, aber längst nicht alles wird refinanziert (zum Beispiel viele Beratungsdienste oder Alleinerziehendenarbeit). Es handelt sich bei diesen öffentlichen Zahlungen in keiner Weise um staatliche Finanzierung der Kirchen, auch nicht um eine Privilegierung, sondern um Staatsleistungen im weiteren Sinn. Diese stehen nicht nur kirchlichen Wohlfahrtseinrichtungen, sondern allen zu, die als freie oder private Träger solche sozialen Aktivitäten entfalten. Aus sozialethischer Perspektive ist dies eine Frage der Gerechtigkeit, der mit genau dieser Regelung in vollem Umfang Genüge getan wird.

Staatliche Refinanzierung kirchlicher Caritas?

Auch wenn es sich teilweise bei dem, was Kirche und Caritas aus eigenen Mitteln zur Finanzierung bestimmter Einrichtungen beitragen, nur um einen prozentualen Anteil im kleinen einstelligen Bereich handelt – zunächst einmal ein minimaler Posten in der Gesamtrechnung dieser Einrichtungen –, so stellt dies doch in der Summe aller Einrichtungen einen nicht unerheblichen Betrag dar, den die kirchliche Wohlfahrtsorganisation hier einbringt. Damit kommen die Kirchen dem nach, was sie aus ihrem theologischen Selbstverständnis heraus als Ausdruck von Nächstenliebe, die sich im gesellschaftlichen Kontext konkretisiert als Verpflichtung zum Gemeinwohlbeitrag, verstehen.

Die öffentliche Hand erspart sich dadurch selbst, solche notwendigen Einrichtungen zu errichten und zu betreiben. Dieser Modus ist für die öffentliche Hand und auch für die Steuerzahler insgesamt deutlich günstiger – auch aus dieser Perspektive ist also die Leistung der Kirchen (wie auch aller anderen Träger) nicht gering zu achten. Für die öffentliche Hand kommt noch hinzu, dass vor Ort, das heißt im engeren Kontakt mit denen, die Hilfe und Unterstützung suchen, die Wohlfahrtseinrichtungen die weitaus größere Kompetenz aufweisen, als der Staat dies könnte. Von daher bringen diese Träger, auch wenn sie größtenteils refinanziert werden, ein Plus gegenüber einer staatlichen Einrichtung mit, das nicht allein in Zahlen und materiellem Wert aufzurechnen ist.

Der staatliche Auftrag und das Subsidiaritätsprinzip

Der Staat ist verpflichtet, soziale Einrichtungen vorzuhalten, damit für jeden Menschen ein menschenwürdiges Dasein gesichert werden kann. Deswegen werden die entsprechenden Einrichtungen von Seiten der Caritas ,im Auftrag des Staates‘ unterhalten. Also unterstützt nicht der Staat die Kirchen, sondern die Kirchen und alle anderen in diesem Gebiet tätigen Akteure unterstützen den Staat. Sie stecken viele Eigenmittel in eine Aufgabe, die Pflicht des Staates beziehungsweise der Länder oder Kommunen sind. Der Staat legt die Verwirklichung und Umsetzung dieser seiner Pflicht in andere Hände, näherhin in die Hände der Gesellschaft, und betrachtet die Akteure nicht als Notstopfen für eigene, eventuell unterfinanzierte Bereiche, sondern als Chance für unterschiedliche Anbieter mit jeweils eigener Kompetenz und Prägung, deren Aktivitäten der Staat dann finanziell absichert. Sozialethisch gesprochen, kommt hier das Subsidiaritätsprinzip zum Tragen. Demnach haben die kleineren Einheiten – das sind in unserem Fall die gesellschaftlichen und wohlfahrtsorientierten Akteure – das primäre Recht und zugleich auch die Verantwortung für eine entsprechende inhaltliche Prägung. Andererseits sind die größeren gesellschaftlichen Einheiten – in vielen Fällen insbesondere der Staat – zur Hilfestellung und Förderung angehalten. Diese subsidiäre Assistenz ist in unserem Fall der von der öffentlichen Hand bereit gehaltene und garantierte finanzielle Rahmen.

Spezifisch christliche Prägung

Prinzipiell ist gegen eine genuin christliche Ausrichtung gar nichts einzuwenden, wenn vergleichbare Dienste ebenfalls ihre genuine Gestalt entwickeln können. Zudem ist noch wichtig, dass das, was die Kirchen an Diensten in der Gesellschaft anbieten, nicht deswegen christlich ist, weil die Adressat:innen christlich sind oder werden sollen, denn christliche Angebote sind offen für alle Menschen!

Vielmehr sind sie deswegen christlich, weil die Subjekte dieser Angebote, die, die hier in den Caritas-Einrichtungen handeln, Christ:innen sind.

Dass deren Christlichkeit dann gerade nicht an ihrem Privatleben entschieden wird, sondern in der Antwort auf die Frage, ob sie die Grundausrichtung der Institution und deren Werte mittragen, ob sie eine Grundsolidarität mit der Einrichtung und ihren Zielen haben und sich diesem Sendungsauftrag zu den Menschen mit verpflichtet fühlen, hat gerade die schon seit langem geforderte und im letzten Jahr umgesetzte Neufassung der kirchlichen Grundordnung gezeigt.

Caritas – das (menschen)freundliche Gesicht der Kirche

Eine Kirche, die ihre Gemeinwohlverpflichtungen gerade in einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft ernstnimmt, Hilfe und Unterstützung für alle Menschen anbietet und damit dem Sozialstaatsgebot zur Realisierung verhilft, erzählt keine Caritas-Legende, sofern sie transparent macht, wie sie ihre Projekte, Einrichtungen und Dienstleistungen finanziert. Wohl aber präsentiert sie damit das (menschen)freundliche Gesicht der Kirche in unserer Gesellschaft – einer Kirche, die selbst in ihren sonstigen Vollzügen an vielen Stellen mit der modernen komplexen und hochdifferenzierten Gesellschaft fremdelt, und in einer Gesellschaft, die auf verlässliche Partner in der Realisierung des Gemeinwohls angewiesen ist. Genau das ist es, was gegenwärtig der Kirche insgesamt zumindest zu etwas mehr Glaubwürdigkeit verhelfen könnte, wenn die aufgezeigten Perspektiven transparent und kommunikabel gemacht werden können.

Literatur:

Frerk, Carsten: Violettbuch Kirchenfinanzen: Wie der Staat die Kirchen finanziert, Aschaffenburg 2010.

Hinweis:

Die jüngste Herder Korrespondenz Spezial widmet sich unter dem Titel „Über Geld spricht man nicht“ dem Thema Kirche und Finanzen. Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer hat sich in diesem Heft in einem Beitrag mit der Refinanzierung kirchlicher Sozialdienstleistungen beschäftigt.

Ursula Nothelle-Wildfeuer

Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer, Inhaberin des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, forscht momentan u.a. zu Fragen nach dem Verhältnis von orthodoxem Sozialethos und christlicher Sozialethik, zu Fragen der Postwachstums- und Gemeinwohlökonomie und zu Entwicklungen im Kontext von KI und Arbeit 4.0.

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