Drei Monate im ,normalen Ausnahme­zustand‘

Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas Israel. Drei Monate später scheint der Krieg zu einer Art Normalität geworden zu sein. Annabell Kühnel ist seit August 2023 als Teilnehmerin des Theologischen Studienjahres Jerusalem in der Dormitio-Abtei in Israel und berichtet von ihren Erfahrungen.

Annabell Kühnel

Als ich nach Israel flog, war ich mir durchaus im Klaren darüber, dass ich in ein Land mit Spannungen und Konflikten unterwegs war. Dass sich die Lage aber dorthin entwickelte, wo sie nun ist, konnte ich mir nicht vorstellen. Seit dem 7. Oktober änderte sich einiges in meinem Leben, dem Leben meiner Kommiliton*innen im Studienjahr sowie der Menschen allgemein in Israel/Palästina. Ich werde über die Ereignisse keine politische Einordnung geben, da ich mich dazu nicht befähigt sehe, möchte aber von meinen persönlichen Erfahrungen berichten. Am naheliegendsten scheint es mir hierbei, am 7. Oktober selbst zu beginnen, weil nur von diesem Tag aus alle weiteren Ereignisse in Israel/Palästina verstanden werden können.

Ab in die Wüste … oder auch nicht

Dass ich den Kriegsbeginn von Anfang an mitbekam, rührte vor allem daher, dass ich zusammen mit einer Kommilitonin nicht an unserer achttägigen Wüstenexkursion teilnehmen konnte. Wir beide hatten uns vor der Abfahrt erkältet, wollten uns erst einmal erholen und sodann mit dem Bus in die Wüste Negev nachreisen. Doch daraus wurde nichts. Einen Tag vor unserer geplanten Abfahrt begann der Krieg.

Dormitio-Abtei

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich mich gerade morgens in meinem Zimmer aufhielt, als die Alarmsirenen losgingen. Da ich nicht zuordnen konnte, was dieses Geräusch bedeuten sollte, ging ich in unseren Speisesaal und ließ mich darüber aufklären, dass das Sirenengeräusch für Raketenalarm steht. Wir sollten es in den kommenden Wochen noch häufiger hören. Die Angestellten der Dormitio hatten sich derweil aufs Dach unseres Wohnheims begeben, wohin ich ihnen folgte. Sie zeigten mir den noch am Himmel zu sehenden Kondensstreifen der Rakete; unser Koch hatte den Einschlag der Rakete in einem Jerusalemer Vorort gefilmt. In dieser Stunde waren wir noch alle der Ansicht, dass es sich um ein kurzes Intermezzo handeln würde, das schon in ein paar Tagen vorbei sein würde. Das stellte sich als Trugschluss heraus. Die nächsten Stunden verbrachten meine Kommilitonin und ich unter andauerndem Raketenalarm in der Cafeteria des Klosters. Ich informierte Familie und Freunde, dass es mir gut ginge; versuchte, Kontakt mit der Studienleitung aufzunehmen, die sich ja gerade in der Wüste befand; lernte, wie der Iron Dome, das israelische Luftabwehrsystem funktioniert, und wie man eine abgefangene von einer nicht-abgefangenen Rakete klanglich unterscheidet.

Weitermachen

Die nächsten Tage und Wochen waren von einer Ungewissheit geprägt, die nicht nur uns in der Dormitio ereilte, sondern alle Menschen im Land. Wohin entwickelt sich das Ganze? Was bedeutet das für uns? Die Straßen Jerusalems leerten sich: die Touristen flogen überwiegend in ihre Heimatländer zurück; die Geschäfte der Innenstadt schlossen wegen mangelnder Kundschaft oder weil ihre Besitzer*innen ins Militär eingezogen wurden. Sicher in der Dormitio aufgehoben, waren es vor allem die Angestellten, die zu meinen nächsten einheimischen Bezugspersonen wurden. Eine in Israel lebende Mitarbeiterin wohnt in einem der vielen israelischen Häuser, die keinen eigenen Raketenschutzkeller besitzen, und muss bei jedem Alarm im Flur ihres Wohngebäudes ausharren. In der Westbank lebende Mitarbeiter kamen nicht mehr über die Checkpoints zu ihrer Arbeit, weil sie geschlossen waren. Die Stimmung in dieser Zeit war bei allen äußerst gedrückt. Diese Stimmung der Ungewissheit, Trauer, Ratlosigkeit, des Unverständnisses ist immer noch da, wich aber mit der Zeit doch einer Art Gewöhnung an den Zustand, der nun eingetreten ist.

Blick auf Felsendom und Erlöserkirche Richtung Ölberg

Man muss mit dem leben lernen, was passiert ist. Normalität im Ausnahmezustand,– nur so kann es weitergehen. Nach ein paar Wochen öffneten die Geschäfte in Jerusalem sowie die Checkpoints wieder, die Eingezogenen kehrten zum Teil zurück, auf den Straßen herrscht wieder leben. Mögen Israel und Palästina auf der Weltkarte keine allzu großen Gebiete umfassen, ein paar Kilometer weiter kann die Lage schon wieder ganz anders aussehen. Jerusalem ist vom eigentlichen Kriegsgeschehen weniger betroffen als andere Regionen; seit dem 7. Oktober kann man an beiden Händen abzählen, an wie vielen Tagen es in Jerusalem zu Raketenalarm kam. Das darf man nicht vergessen.

Dableiben

Und genau das ist einer der Gründe, warum ich hierbleiben möchte. Ich fühle mich in der Dormitio-Abtei sicher. Ich wohne nicht in Tel Aviv, in der Westbank oder im Gazastreifen, sondern an einem – in diesen Zeiten – sicheren Ort. Und ich vertraue der Einschätzung der Menschen, die schon jahrelang in dieser Region leben, und richte mich nach den Vorgaben der für mich hier Verantwortlichen. Dabei bin ich der Studienleitung, der Dormitio-Abtei sowie meinen Kommiliton*innen zu großem Dank verpflichtet, die mir Halt und Zuversicht schenken. Und schließlich habe ich in der Zeit, in der ich hier bin, das Land lieben gelernt mit all seiner Vielfalt und seinen Uneindeutigkeiten. Auch ich habe keine Lösung für die vorherrschenden Probleme und Spannungen, die tiefen Gräben und den Hass, aber ich möchte ebenso wenig meine Hoffnung für die Zukunft dieser Region aufgeben. Daher möchte ich zuversichtlich bleiben. Denn: „Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte“ (Hölderlin, Friedrich, Hyperion an Bellarmin VI (Bd. 1), Tübingen 1797, S. 38) – gerade hier im Heiligen Land.

Bildrechte: Alle Bildrechte liegen bei Annabel Kühnel

Annabell Kühnel

Annabell Kühnel studiert katholische Theologie im Magister an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Seit August 2023 ist sie für acht Monate Teilnehmerin des Theologischen Studienjahres Jerusalem.

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