Drei Fragen an Christiane Woopen

Am Freitag, den 8. Juli, fand in der Katholischen Akademie in Freiburg in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät eine Tagung statt zu der Frage „Noch relevant? Bleibend relevant?“ Es ging um die Stimme der christlichen Sozialethik im politischen Diskurs. Sie haben über die Relevanz von Kirche in einer Gesellschaft vielfältigen Wandels gesprochen.

zwoelf57: In den unterschiedlichsten Kontexten wird auf diesen Wandel rekurriert und werden Transformationsprozesse beschrieben. Wo und wie findet Ihrer Beobachtung nach dieser Wandel statt und wodurch ist er charakterisiert?

Prof Dr. Christiane Woopen, Bonn

Woopen: Dass Gesellschaften sich wandeln und etliche Herausforderungen zu meistern haben, ist bei weitem kein neues Phänomen. Kriege, Generationenkonflikte, Revolutionen und Erschütterungen von Welt- und Menschenbildern gab es schon immer. Sie sind – trotz aller kulturellen Unterschiede im Einzelnen – soziale Konstanten. Gleichwohl zeichnen sich zumindest die letzten Jahrzehnte durch – wie es der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet – Steigerungsimperative aus.Alles muss in zunehmender Geschwindigkeit besser, größer, effektiver, schöner werden. Das setzt Gesellschaften erheblich unter Druck und führt dazu, diese Imperative durch die institutionelle Gestaltung etwa von Wirtschaft und Bildung abgesichert werden. Es kommt zu einer Konzentration auf die Verfügbarkeit von Ressourcen aller Art, um diese Dynamiken bedienen zu können. Es führt gleichzeitig zu einer Betonung des Funktionierens auf Kosten des Lebens – oder, um es pointiert zu fassen: Maschine trumpft Mensch.

Die damit einhergehenden Transformationen sind insbesondere durch vier Dynamiken gekennzeichnet: die Technologisierung, Ökonomisierung, Ökologisierung und Globalisierung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Man denke etwa an die überragende Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien und den damit einhergehenden Überwachungskapitalismus, wie Shushana Zuboff es nennt; oder an die Ökonomisierung im Gesundheitssystem, in dem zunehmend wirtschaftliche Erwägungen medizinische in den Hintergrund drängen; oder an den Verbrauch natürlicher Ressourcen durch den Menschen, der die Möglichkeiten der Erde, diese nachzubilden, soweit übersteigt (Stichwort Erdüberlastungstag), dass die Menschheit geradezu den Ast absägt, auf dem sie sitzt; oder an die Pandemie und die Energiepreise, die nur in globalen Zusammenhängen verstanden und gestaltet werden können.

Der gegenwärtig größte Glanz der Kirche

zwoelf57: Kirche war lange Zeit soziologisch betrachtet ein wichtiger und einflussreicher gesellschaftlicher Player – mehr noch, sie verstand sich als die entscheidende und maßgebende Autorität in der Gesellschaft. Wie sehen Sie die Position der katholischen Kirche heute unter den beschriebenen Transformations-Bedingungen?

Woopen: Kirche im Sinne der Gemeinschaft der Gläubigen wird heute und immer gerade dort spürbar, wo es um den praktischen Dienst am Nächsten und an den Schwächsten geht. Die Arbeit, die kirchliche Organisationen wie der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) oder die Caritas vollbringen, ist zur Zeit der größte Glanz. Hieraus und aus den Gemeinden, aus einer Erneuerung von der Gemeinschaft der Gläubigen her, wie es etwa auch der Synodale Weg in Deutschland verfolgt, mag man die größten Hoffnungen für eine echte Zukunft der Kirche ziehen.

Schaut man allerdings auf die Amtskirche, überwiegen bei weitem die negativen Signale, die sie, zumindest in Europa zunehmend irrelevant machen.

„Die Kirche hat keine überzeugenden Antworten auf die sich wandelnden Lebensweisen und -kontexte“,

und wo sie sie hat – wie etwa zum Umgang mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen (s. etwa in Laudiato si) – verschafft sie sich kein ausreichendes Gehör und findet mit ihren Worten und Erzählungen kaum Zugang zu den Menschen, die voller Fragen sind und sich nach Antworten sehnen. Es scheint einen Graben zu geben: Ein Graben zwischen dem, was Kirche eigentlich zu bieten hätte, und dem, was sie tatsächlich bietet. Sie könnte mit dem, was sie zu all den angesprochenen Fragen, und darüber hinaus, zu sagen hat, das Leben von Menschen bereichern und ihnen Perspektiven eröffnen, sie könnte den öffentlichen Diskurs zu den genannten Dynamiken und Wandlungsprozessen produktiv mitgestalten, und sie könnte politischen Einfluss zur Förderung des Gemeinwohls ausüben und die internationale Verständigung für eine gerechte Welt vorantreiben. Stattdessen verdunkelt sie allzu oft ihr eigenes Zeugnis für das Leben. Das tut sie unter anderem

  • durch das Fehlverhalten zu vieler ihrer Repräsentanten, was im Missbrauchsskandal seinen schmerzhaften Höhepunkt fand, und kein Ende nimmt,
  • durch ihre allzu oft apodiktische moralische Verurteilung und Ferne von den Menschen in ihren existenziellen Fragen,
  • durch ausbleibende oder ungeschickte Reformen etwa der Gemeinden vor Ort,
  • durch ihren seelenlosen Umgang mit Priestern
  • durch ihren völlig aus aller Zeit gefallenen Umgang mit Frauen, und
  • durch ihr auch ansonsten hierarchisches Machtgehabe in Strukturen, Inhalten und ihrer Art der Kommunikation.

Ohne Liebe, keine Gerechtigkeit und Beziehung

zwoelf57: Ihrem Vortrag haben Sie den Titel gegeben „… denn sie hat viel geliebt“. Was bedeutet diese Formulierung im Blick auf die Relevanz von Kirche in der Gesellschaft?

Woopen: Lukas (7, 36-50) erzählt, dass Jesus bei Simon, einem Pharisäer, zum Essen eingeladen ist. Eine Frau kommt zu Jesus; sie weint, trocknet die Tränen auf seinen Füßen, küsst sie und salbt sie mit wohlriechendem Öl. Dem verblüfften Simon, der es in seiner pharisäischen Gesetzesversessenheit wohl vorgezogen hätte, dass Jesus dies der Frau, die eine Sünderin war, nicht erlaubt hätte, erklärt Jesus, dass ihr viele Sünden vergeben sind, weil sie ihm im Unterschied zu Simon, der ihn nicht gewaschen, geküsst und gesalbt habe, so viel Liebe gezeigt hat. Zu der Frau sagt er: Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden.

Wer viel liebt, dem wird viel vergeben. Wem viel vergeben wird, liebt viel. Wer glaubt, liebt viel. Die Liebe und nicht das Urteil und die Verurteilung in den Mittelpunkt zu stellen, ist für mich die grundlegende Relevanz der Kirche. Ohne Liebe, ohne Barmherzigkeit, keine Gerechtigkeit, keine die Seele nährende Beziehung. Der Jesuitenpater Peter Knauer schreibt in seinem Buch „Handlungsnetze – Über das Grundprinzip der Ethik“ aus dem Jahre 2002 über die befreiende Wirkung der Liebe: „Diese (die christliche) Botschaft bringt keine neuen Normen mit sich, sondern will zur Erfüllung derjenigen Normen befreien, zu denen wir bereits auf Grund unseres Menschseins im Voraus zu aller Religion verpflichtet sind.“ Ethischen Ansprüchen entsprechend zu handeln erfordert, von der Angst um einen selbst, die einen unfrei macht, befreit zu sein. Dies entsteht in der „Gemeinschaft des Menschen mit Gott, die darin besteht, in die ewige Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn aufgenommen zu sein. Daraus entsteht eine Gewissheit, die stärker ist als alle Angst des Menschen um sich selbst.“

„Liebe ist – so sehe ich es – unsere einzige Chance, mit den genannten Herausforderungen der Zeit wirkungsvoll und auf Dauer umzugehen.“

Die Liebe zum Menschen und zur menschlichen sowie außermenschlichen Umwelt ist eine Grundhaltung, aus der heraus systemische Zusammenhänge in ihren subtilen Grundlagen besser verstanden werden und Wertekonflikte klarer erkannt und Brücken kraftvoller gebaut werden können.

Eine solche Haltung würde unweigerlich damit einhergehen,

  • dem Steigerungsimperativ und den mit ihm einhergehenden verkrusteten, nichtresonanten Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Umwelt entgegenzuwirken;
  • nicht den „Dynamiken der Medien und der digitalen Welt“ zu unterliegen, die laut Franziskus „nicht die Entwicklung einer Fähigkeit zu weisem Leben, tiefgründigem Denken und großherziger Liebe begünstigen“, sondern die Reflexion, den Dialog und die großherzige Begegnung zwischen Personen zu pflegen;
  • Technik immer als Mittel für gute Ziele des Menschen zu gestalten, sie nicht über ihn herrschen zu lassen oder ihn gar durch Technik zu ersetzen;
  • das Wirtschaften im Dienste für alle Menschen unter den Maßstab der sozialen Gerechtigkeit und ökologischen Nachhaltigkeit zu stellen;
  • die menschliche und außermenschliche Natur um des Wertes ihrer selbst willen zu achten, auch im Hinblick auf zukünftige Generationen;
  • keine Unterschiede zwischen Menschen etwa nach Hautfarbe, Geschlecht, Wohnort oder sozialem Status zu machen. Die globale Perspektive ist in sie von vorneherein eingewoben.

Eine Ethik aus der Liebe zum Leben in seiner Lebendigkeit und Fülle – life ethics – entwickelt ihre Maßstäbe von innen heraus und ist für unterschiedliche Vorstellungen von einem gelingenden Leben und für verschiedene kulturelle Kontexte offen. Sie nimmt nicht das Glück, die Gerechtigkeit oder die Pflicht zum Maßstab und legt diese Maßstäbe von außen an Technologien oder Institutionen an, sondern entwickelt ihre Maßstäbe aus der Mitte der Erfahrung des Lebendigen. Sie bedarf nicht der christlichen Fundierung und ist nicht auf einen Bezug zu Gott angewiesen. Gleichwohl ist die christliche Botschaft der Liebe Gottes eine ihrer kraftvollsten Ausprägungen und Motivationen – sie könnte es jedenfalls sein.

Ursula Nothelle-Wildfeuer

Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer, Inhaberin des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, forscht momentan u.a. zu Fragen nach dem Verhältnis von orthodoxem Sozialethos und christlicher Sozialethik, zu Fragen der Postwachstums- und Gemeinwohlökonomie und zu Entwicklungen im Kontext von KI und Arbeit 4.0.

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