Der lange Sommer der Migration

Es gibt kaum ein Thema, das die deutsche Gesellschaft im letzten Jahrzehnt mehr prägte als die Debatte um Fluchtbewegungen von 2015 nach Europa. Die Debatte war von einer scharfen Gegenüberstellung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik geprägt. Clarissa Wolk plädiert für eine Abkehr von der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

In Calais, der Stadt die 2015 das größte inoffizielle Flüchtlingscamp Europas beherbergte, befindet sich ein Graffito des berühmten Streetart-Künstlers Banksy. Es zeigt eine Schiffbruchszene, welche stark an „Das Floß der Medusa“ von Théodore Géricault erinnert. Im Bildhintergrund ist eine Luxusyacht samt Helikopter zu erkennen. Banksy kommentierte sein Werk mit den Worten: „We are not all in the same boat“.

Es gibt kaum ein Thema, das die deutsche Gesellschaft im letzten Jahrzehnt mehr prägte als die Debatte um Fluchtbewegungen nach Europa. Selten waren die Konsequenzen der Globalisierung und der deutschen Politik wohl so spürbar wie im Jahr 2015, als fast eine Million Menschen die deutsche Grenze überquerten, um Schutz vor Krieg, Hunger oder Verfolgung zu suchen. Auch die letztjährige Fluchtbewegung aus der Ukraine rückte die Thematik wieder in den Vordergrund politischen Handelns. Laut des Bundesinnenministeriums flüchteten 2022 über eine Million Ukrainer*innen vor dem russischen Angriffskrieg nach Deutschland.[1] Dieses Mal aber mit dem Unterschied, dass sich die deutsche Flüchtlingspolitik deutlich liberaler ausgestaltete als noch 2015.

Der ethische Diskurs über die deutsche Flüchtlingspolitik im Spätsommer 2015 war gekennzeichnet von der Thematisierung der Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Dabei hatte besonders die scharfe Gegenüberstellung der beiden Ethiken an Popularität gewonnen. Wobei besonders die Vertreter*innen der Verantwortungsethik die Gesinnungs- und Verantwortungsethik als zwei sich gegenseitig ausschließende Pole betrachteten.

Was versteht man nun aber unter Gesinnungs- und Verantwortungsethik?

Das Begriffspaar ist eng verbunden mit Max Weber und seiner Rede „Politik als Beruf“ aus dem Jahr 1919. Bei der Unterscheidung zwischen den beiden Ethiken geht es Weber darum eine für den politischen Raum angemessene Ethik zu ermitteln. Als zwei mögliche Alternativen führt er die Gesinnungs- und Verantwortungsethik an.

Weber definiert die Gesinnungsethik als eine Ethik, welche die Moralität einer Handlung an der Übereinstimmung dieser Handlung mit zuvor festgelegten Werten bemisst.

Bei der Verantwortungsethik hingegen ist die Moralität einer Handlung von deren Folgen abhängig. Weber macht zunächst die Trennung der beiden Ethiken stark, löst diese am Ende seiner Rede jedoch wieder auf. Er kommt zu der Erkenntnis, dass es in der Politik einen „reife[n] Mensch[en]“[2] braucht, der sein Handeln an den Folgen der Handlung orientiert, aber dennoch die Fähigkeit besitzt, die ethische Reflexion dieser Handlung zu berücksichtigen. In der Rezeptionsgeschichte wurde das Zusammenspiel der beiden Ethiken jedoch oftmals vernachlässigt und die trennenden Elemente betont.

So werfen die Verantwortungsethiker*innen auch heute noch den Vertreter*innen der Gesinnungsethik fehlendes Verantwortungsbewusstsein vor, weil diese angeblich keinen Wert auf die Folgen ihrer Handlungen legen.

Begründungsmuster, mit Verweis auf die „gute“ Verantwortungsethik und die „schlechte“ Gesinnungsethik, finden sich in der Debatte um Flucht und Migration häufig wieder.

Besonders deutlich wird dies am Thema Aufnahmekapazität von Geflüchteten. Begründet durch die Souveränität eines Staates fordern Verantwortungsethiker*innen eine Obergrenze bei der Aufnahme von Geflüchteten. Da ein Staat souverän über eine Grenzschließung bestimmen kann, steht es ihm folglich ebenso frei zu entscheiden, wer das Staatsgebiet betreten darf.  Außerdem werden die begrenzten Versorgungsmöglichkeiten und die Akzeptanz der Bevölkerung als Argumente gegen geöffnete Grenzen angeführt. Die Vertreter*innen der Gesinnungsethik sprechen sich gegen eine Obergrenze aus und werden deshalb von den Verantwortungsethiker*innen als verantwortungslos bezeichnet. Die Gesinnungsethik handelt aber durchaus verantwortungsbewusst und damit auch folgenorientiert. Es unterscheidet sich lediglich der jeweils zugrundeliegende Verantwortungsbegriff der beiden Ethiken. Die Gesinnungsethik orientiert sich an einem universalistischen Verständnis. Das heißt, ihre Verantwortung endet, anders als bei der Verantwortungsethik, nicht an der Landesgrenze, sondern geht über sie hinaus. Begründet wird dies mit der universalen Menschenwürde, aber auch durch internationale Abhängigkeiten, wie der Globalisierung oder der Kolonialgeschichte. Dieses universalistische Verantwortungsverständnis spiegelt sich auch in der ethischen Bewertung der deutschen Flüchtlingspolitik aus dem Jahr 2015 wider. Zentrales Element der Gesinnungsethik ist es dabei einen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen und Rechten der Aufnahmegesellschaft und der Geflüchteten zu schaffen.

Ethik im Kontext von Flucht und Migration darf also nicht auf reine Folgenkalkulation enggeführt werden. Sie ist zwar ein notwendiger, aber kein hinreichender Faktor für den Umgang mit Flucht und Migration. Außerdem müssen die möglichen Folgen einer Handlung ethisch abgewogen werden. Diese Folgenabwägung muss sich an festgelegten ethischen Prinzipien orientieren. Erst durch die gesinnungsethische Grundlage kann eine Folgenabwägung gewährleistet werden, die nicht nur nach dem politisch Umsetzbaren fragt, sondern das Wohlergehen aller Beteiligten im Blick hat. Andernfalls würde die ethische Herausforderung des Fluchtdiskurses auf das aktuell politisch Umsetzbare reduziert werden. Das politisch Umsetzbare ist aber nicht synonym mit dem ethisch Richtigen. So darf auch die Verantwortungsethik nicht nur nach dem politisch Machbaren streben, sondern muss die Tragweite der ethischen Herausforderung erfassen und mit geeigneten Mitteln auf diese reagieren.

Diskurs über die deutsche Flüchtlingspolitik 2015

Die suggerierte Trennung zwischen den beiden Ethiken wirkte sich in der Debatte um die Flüchtlingspolitik also abträglich aus. Sie führte dazu, dass die unterschiedlichen Positionen nicht mehr zu Gesprächen bereit waren und sich dadurch die eigene Meinung und Vorurteile verhärteten. Dies zeigte sich besonders in den Folgen der deutschen Flüchtlingspolitik von 2015. Anfang September 2015 erreichte die Fluchtbewegung nach Europa ihren Höhepunkt und resultierte in der Etablierung eines formalisierten Korridors, der sich von Griechenland bis an die österreichische und deutsche Grenze erstreckte. Diese Ereignisse sorgten für ganz unterschiedliche Reaktionen seitens der deutschen Gesellschaft. Sie reichten von engagierter Hilfsbereitschaft, die in der Willkommenskultur Ausdruck fand, bis hin zu Ressentiments gegenüber der Anzahl der Geflüchteten und der Sorge um die Versorgung und Integration der Schutzsuchenden.

Ein offener Diskurs über die Vor- und Nachteile der Willkommenskultur, wurde jedoch verhindert, indem die Willkommenskultur von der Verantwortungsethik allein auf ihre Folgen, nämlich den weiteren Zuzug von Geflüchteten, reduziert wurde.

Man kann letztlich so weit gehen von einer „moralischen Verhässlichung“[3] des Diskurses zu sprechen. Diese entwickelte sich dahingehend weiter, dass „in einer breiten Öffentlichkeit eine moralisch vereindeutigte Situation entstanden [war], in der Argumente nicht mehr als Beiträge zur Sache, sondern als unbedingte moralische Bekenntnisse gerahmt wurden“.[4]

Es scheint deshalb notwendig, sich von der durch Max Weber geprägten Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu lösen. Will man dennoch eine Bezeichnung für die Ethiken festlegen, wäre es treffender und differenzierter von partikularistischer und universalistischer Verantwortungsethik zu sprechen.

Es sollte also weder im ethischen noch im politischen Fluchtdiskurs mehr von Gesinnungs- und Verantwortungsethik gesprochen werden.

Die Umbenennung kann eine unvoreingenommenere Debatte ermöglichen, durch die auch die Kommunikation zwischen den verschiedenen ethischen Positionen verbessert würde. Schließlich ist es das Ziel sowohl den Bedürfnissen der Aufnahmegesellschaft als auch der Schutzsuchenden gerecht zu werden. Damit dies gelingt muss eine Atmosphäre geschaffen werden, in der ein Diskurs auf Augenhöhe möglich ist. Dazu gehört, dass die Sorgen und Ängste der Bürger*innen ernst genommen, aber dennoch die Rechte der Geflüchteten gewahrt werden. Gerade, weil diese selbst keine Stimme in der nationalen bzw. europäischen Fluchtdebatte haben. Die Abkehr von der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik trägt zu dieser Veränderung bei.

[1] Vgl. Mediendienst Integration, Flüchtlinge aus der Ukraine, in: https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/ukrainische-fluechtlinge.html (03.01.2023)

[2]  Weber, Max, Politik als Beruf, Berlin 112010, S. 64.

[3] MOOS, THORSTEN, Moralisches Unbehagen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 62 [4], 2018, S. 257.

[4] MOOS, THORSTEN, Moralisches Unbehagen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 62 [4] 2018, S. 257.

Clarissa Wolk

Clarissa Wolk studierte Katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und arbeitet aktuell als Pastoralassistentin in Mannheim.

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