Wenn eine*r in die Wüste geht

„Der selige Antonios pflegte zu sagen: Wenn aber von uns eine*r in die Wüste geht, dann will er*sie andere früher heilen als sich selbst. Und unsere Schwäche kehrt zu uns zurück und unsere letzten Dinge werden ärger als die ersten, und daher heißt es für uns: Ärzt*in, heile dich vorher selber!“

Auf diesem Bild sieht man eine Frau mit Turban in der Wüste, die in die Ferne schaut.

Am ersten Abend der Negev Exkursion, als wir auf das Abendessen warteten und uns in der Abenddämmerung langsam klar wurde, wie kalt die Nächte in der Wüste wirklich werden können, las Georg diesen Spruch vor. Das kleine Taschenbuch mit den Sprüchen der Wüstenväter und -mütter hatte ich aus der Bibliothek der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg in Jerusalem mit auf unsere neuntägige Wüstenwanderung geschmuggelt. Das ist jetzt gut zehn Wochen her. Inzwischen war ich an vielen Orten in Israel und Palästina: in Jerusalem an der Klagemauer, auf dem Haram al-Sharif und in der Grabeskirche, bei Ausgrabungen in Sebastia und auf dem Berg Garizim, in Clubs in Tel Aviv-Jaffa oder im Hamam in Ramallah.

Vielleicht war der eindrücklichste Effekt der Wüste, dass sie uns allen unsere bleibende körperliche Vulnerabilität ins Bewusstsein brachte — und die Abhängigkeit von anderen Körpern.

Das ist meine Interpretation des Jahresthemas „Land“, unter dem das 48. Theologische Studienjahr steht: möglichst viele Räume besuchen und die Perspektiven der Personen, die darin leben, kennenlernen. Gleichzeitig hat sich die Erfahrung von Raum hier deutlich vielschichtiger gezeigt, als ich zuvor gedacht hätte. Um uns den Zion in alttestamentlicher Theologie näherzubringen, arbeitete unsere Dekanin [Prof. Johanna Erzberger] mit der Raumtheorie Henri Lefebvres. Ihm zufolge wird ein Raum in drei Dimensionen erfahren: Als „first space“ wird der materielle Raum körperlich und sinnlich wahrgenommen. Diese Erfahrung ist sehr unmittelbar — am ersten Abend im Negev konnte ich kaum einschlafen, so sehr fror ich in meinem Schlafsack unter freiem Himmel. Als „second space“ wird der Raum bereits gedeutet wahrgenommen, vorgeprägt von Konzepten wie Sprache oder Wissenschaft. Den Negev nahm ich so als Wüste wahr, ein Ort an dem per definitionem weniger als 10 Zentimeter Regen pro Jahr fallen. In den „third space“ fällt das konkrete subjektive Leben, das von eigenen Vorstellungen und Wünschen, aber auch Traditionen und geteilten Werten geprägt wird. Nach der Hälfte der Wanderung legte unsere christlich geprägte Gruppe also einen „Wüstentag“ ein, einen Tag der Stille, der implizit Erinnerungen an die biblische Wüstenwanderung des Volkes Israels wachrief.

Vielleicht war der eindrücklichste Effekt der Wüste, dass sie uns allen unsere bleibende körperliche Vulnerabilität ins Bewusstsein brachte — und die Abhängigkeit von anderen Körpern. Nicht nur in der Wüste erfahre ich als studentische Gästin hier das unverdiente Privileg, dass mein Körper geschützt wird. Auch als Touristin fühle ich mich nicht gefährdet — in einem Land, das Einheimische oft Spannungen und Grenzen direkt spüren lasst. Gleichwohl möchte ich durch meine Präsenz meine Gegenüber nicht gefährden. Im „first space“, rein physisch gesehen, bin ich harmlos. Keine körperliche Gewalt geht von mir aus. Doch was ist mit den anderen zwei Raumdimensionen? In Jerusalem sehe ich, wie religiöse Konzepte zu Ansprüchen auf Raum führen können, die sehr konkret körperlich erfahrbar werden. Wiederum spüre ich das nicht in erster Linie am eigenen Leib: Ich darf fast alle heiligen Stätten und alle Stadtviertel betreten, die ich besuchen möchte. Andere können das nicht. Auch in den christlichen Theologien finden sich zahlreiche Deutungen und Ansprüche bezogen auf diese Gegend, die so oft „heiliges Land“ genannt wird. Inwiefern, so ist die Frage, die ich mir hier zur Aufgabe gemacht habe zu beantworten, schaffe ich mit meiner Theologie einen Raum, der andere ausschließt und für sie zur Gefahr werden kann? In der Wüste habe ich die Antwort noch nicht gefunden, aber die Suche geht weiter gemäß dem Spruch Antonios’ „Ärzt*in, heile dich vorher selber!“


Zitate aus:

Sartory, Gertrude/Sartory, Thomas (Hg.), Lebenshilfe aus der Wüste, Die alten Mönchsväter als Therapeuten, Freiburg i. Br. 1980.

Das Zitat „Ärzt*in, heile dich vor dir selber!“ bezieht sich auf die Bibelstelle Lk 4,23. Anpassungen an gendergerechte Sprache durch die Autorin.

Dieser Text wurde inspiriert von den Vorlesungen Prof. Johanna Erzbergers, Prof. Joachim Sanders, Prof. Alphonse Groenewalds und Dr. Lerato Mokoenas.

Beitragsbild: Fran Schmid

Fran Schmid

Fran Schmid, Studentin Mag. Theol. an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, studiert seit Oktober 2021 für acht Monate im ökumenischen Theologischen Studienjahr Jerusalem.

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