Mehr als nur Glaubenssache: Zur Bedeutung von Spiritual Care in der Palliativversorgung

Kathrin Senger erklärt uns, was Spiritual Care eigentlich bedeutet und warum die Theologie in der Palliative Care weiterhin zentral ist.

Auf dem Bild sieht man eine junge Hand, die eine ältere Hand stärkt.

Als ich im März 2024 den Kontaktstudiengang „Palliative Care Pädiatrie“[1] begonnen habe, habe ich dort nicht nur inhaltlich viel Neues gelernt, ich durfte auch 24 interessante Mitteilnehmerinnen aus ganz verschiedenen Berufsfeldern kennenlernen. Neben Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen und Pflegefachfrauen, war die Heilpädagogik, die Physio- und Psychotherapie vertreten. Berufsgruppen, die man gemeinhin auch erst einmal mit der Thematik verbinden würde. Ich selbst war als eine von zwei Theologinnen dabei. „Was soll jetzt die Theologie mit Palliative Care zu tun haben? Beten hilft auch nicht mehr, wenn ich im Sterben liege.“ – Diesen Satz bekam ich tatsächlich von einem entfernten Bekannten zu hören. Ich ärgerte mich etwas – musste aber auch ein bisschen schmunzeln. Ich fragte ihn, ob er schon mal etwas von Spiritual Care gehört habe, er tat das ab: Das interessiere doch heute keinen mehr, außer vielleicht ein paar ältere, fromme Menschen. Mein Gesprächspartner ahnte ja nicht, wie falsch er damit liegt. Zum Wintersemester 2024/25 startete an der Universität Münster der Masterstudiengang „Spiritual Care“, die Universitäten Basel und Zürich bieten entsprechende Studiengänge schon seit 2015 an. Man reagiere mit dem Studiengang auf „Forschungsergebnisse zu spirituellen Bedürfnissen von Menschen in Krankheit und Leid“, so die Evangelisch-Theologische Fakultät der Uni Münster bei der Vorstellung des neuen Studiengangs.[2]

Zweifellos können sich heute immer weniger Menschen mit Begriffen wie Religiosität, Glaube oder Frömmigkeit identifizieren. Daher wird im Gesundheitswesen bevorzugt von „Spiritualität“ gesprochen, was weiter gefasst ist und neben religiösen Aspekten, Fragen nach Weltanschauung, Werten und Lebenseinstellungen einschließt. Spiritualität gehört zum menschlichen Leben und zwar unabhängig von Religion oder Weltanschauung. Es geht um Sinn- und Transzendenzerfahrung, um Suche, die Menschen in je eigener Weise erleben und die immer wieder Veränderungen unterworfen ist.  Der Begriff Spiritual Care selbst ist genauso wie der Begriff Palliative Care ins Deutsche übernommen worden, Übersetzungsversuche wie „spirituelle Begleitung“ haben sich letztlich nicht durchgesetzt. Der englische Begriff „Care“ ist nicht exakt ins Deutsche zu übersetzen, deutsche Wörter wie Sorge oder Fürsorge bilden nur Teile dessen ab, was Care meint: Nämlich die Versorgung mit dem, was für Gesundheit, Wohlergehen, Pflege, Unterhalt und Schutz erforderlich ist und zwar sowohl auf privater, als auch auf institutionell-gesellschaftlicher Ebene.[3]

Spiritual Care bedeutet also …

„die Organisation gemeinsamer Sorge für die spirituellen und religiösen Bedürfnisse von kranken Menschen und ihren An- und Zugehörigen. Gemeinsame Sorge heißt, dass die Betreuung, Versorgung und Begleitung von Patienten und Patientinnen sowohl körperliche und psychische Aspekte umfasst wie auch Aspekte, die zum Bereich Glauben, Werteinstellungen und Sinnfragen gehören.“[4]

Damit ist Spiritual Care keine neumodische Bezeichnung für Krankenhausseelsorge. Tatsächlich ist Spiritual Care in der deutschsprachigen Diskussion lange Zeit entweder als Kontrastbegriff zur Krankenhausseelsorge oder als deckungsgleich mit jener definiert worden.[5] Letztlich lässt sich Krankenhausseelsorge immer auch als Teil von Spiritual Care begreifen, beides ergänzt sich. Spiritual Care ist Aufgabe des gesamten Behandlungsteams, Seelsorgenden kommt dabei eine besonders tragende Rolle zu.  Ärzt:innen, Pfleger:innen und Seelsorger:innen widmen sich gemeinsam als Team diesem Feld, jede Berufsgruppe betrachtet dabei Krankheit und Gesundheit aus einem anderen Blickwinkel, doch der Mensch als Person steht im Mittelpunkt. Die Spiritual Care – Studiengänge der Universitäten Basel, Zürich und Münster sind daher immer Kooperationen zwischen medizinischen und theologischen Fakultäten. Die Verhältnisbestimmung zwischen Krankenhausseelsorge und Spiritual Care befindet sich genau wie die beiden Konzepte selbst in einem dynamischen Prozess.

Als „Wurzelgrund“[6] von Spiritual Care bezeichnet Doris Nauer die moderne Hospizbewegung um die Britin Dame Cicely Saunders. Saunders (1918-2005), die als Begründerin der modernen Hospizbewegung gilt, war Krankenschwester, Sozialarbeiterin, Ärztin und: praktizierende Christin.[7] Ihr multiprofessioneller Hintergrund prägte Saunders‘ Total-Pain-Konzept, das Leid und Schmerz am Lebensende nicht nur als physische, sondern auch als psychische, soziale und spirituelle Erfahrung begreift. Die spirituelle Komponente von Leid und Schmerz am Lebensende wurde damit erstmals als unverzichtbarer Teil innerhalb der Versorgung Sterbender anerkannt.[8] Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in ihrer 2002 verabschiedeten Definition von Palliative Care die Begleitung von Patient:innen in spirituellen Fragen und Bedürfnissen als wesentlich bezeichnet.[9]

Ja es stimmt, immer weniger Menschen bezeichnen sich als religiös oder gehören einer Glaubensgemeinschaft an. Doch schwere Krankheiten und existenzielle Krisen werfen uns aus der Bahn – als Patient:in genauso wie als zugehörige Person. Als praktizierender Katholik genauso wie als überzeugte Atheistin. Plötzlich gerät das Leben ins Wanken und was eben noch selbstverständlich schien, wirkt brüchig und Fragen drängen sich auf: Was trägt mich, wenn alles andere zerbricht? Woher nehme ich in dunklen Stunden Trost und Kraft? Wer hört meine Klage, wenn Worte fehlen? An wen oder was kann ich mich wenden, wenn Angst und Unsicherheit übermächtig werden? In diesen Situationen ist eine gute Begleitung unentbehrlich. Denn der Schmerz, der durch Gefühle wie Sinnlosigkeit, Angst vor dem Tod, Schuld und Fragen nach dem Wohin und Woher entsteht, ist genau das: Schmerz. Cicely Saunders hat das mit ihrem Total-Pain-Konzept zum Ausdruck gebracht. Die Integration spiritueller Begleitung in die medizinische und pflegerische Versorgung ist dabei eine Antwort auf die wachsenden Bedürfnisse von Patient:innen in einer sich wandelnden Gesellschaft, in der konfessionelle Angebote alleine nicht mehr ausreichen und Gesundheit zunehmend ganzheitlich verstanden wird.

[1] Der Kontaktstudiengang ist eine Kooperation zwischen der EH Freiburg, dem Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsklinik Freiburg und dem Bundesverband Kinderhospiz.

[2] Vgl. [O.V.]: „Vorzeigeprojekt für interdisziplinäre Ausbildung“. Uni Münster stellt neuen Studiengang Spiritual Care vor. In: Rheinische Post vom 26.03.2024. Online abrufbar unter:  https://rp-online.de/nrw/hochschulen/uni-muenster-stellt-neuen-studiengang-spiritual-care-vor_aid-109617855, (zul. abgerufen am 30.06.25).

[3] Vgl. Chilian, Lea: Ethik und Spiritualität im Gesundheitswesen. Spiritual Care in theologisch-ethischer Diskussion. Kohlhammer. Stuttgart, 2022, 217.

[4] Roser, Traugott interviewt durch: Wendel, Christine: Seelsorge im Krankenhaus. Gesundheit ist nicht Abwesenheit von Krankheit. In: Don Bosco Magazin vom 31.08.2018. Online abrufbar unter: https://www.donbosco-magazin.eu/Glaube/Spiritualitaet/Gesundheit-ist-nicht-Abwesenheit-von-Krankheit, (zul. abgerufen am 01.07.25).

[5] Vgl. Platzer, Johann: Spiritual Care als Chance und Herausforderung für die Seelsorge. In: Limina, Jahrgang 7 (2024), Heft 2. 55-76, 63f.

[6] Nauer, Doris: Spiritual Care statt Seelsorge? Kohlhammer. Stuttgart, 2015, 22.

[7] Vgl.: Chilian: Ethik und Spiritualität im Gesundheitswesen, 43.

[8] Vgl. Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin: Positionspapier der Sektion Seelsorge/Spiritual Care der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: „Spiritual Care und Seelsorge in der Hospiz- und Palliativversorgung“. Stand: 17.02.2025. Online abrufbar unter: https://www.dgpalliativmedizin.de/images/250217_formatiert_Positionspapier_Sektion_Seelsorge_Spiritual_Care.pdf, (zul. abgerufen am 30.06.25), 1.

[9] Vgl. WHO: Fact Sheets, Palliative Care – Übersetzung der WHO-Definition Palliative Care aus dem Jahr 2002: Online abrufbar unter: https://www.klinikum amberg.de/medizin/kliniken_und_fachbereiche/Palliativversorgung/ who_definition.php, (zul. abgerufen am 01.07.25).

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Auf dem Bild ist Kathrin Senger zu sehen.

Kathrin Senger

Kathrin Senger hat Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg studiert und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am zap:freiburg | Lehrstuhl für Pastoraltheologie. Sie ist Kriseninterventionshelferin (DRK) und Fachkraft für Palliative Care Pädiatrie.

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