Reicht ein Ritual für alle? Trauerfeiern nach Großkatastrophen

Nach Großkatastrophen nehmen religiöse Rituale wie kirchliche Trauerfeiern neben dem staatlichen Trauerakt einen zentralen Platz ein. Doch werden diese christlichen Trauerfeiern einer multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft gerecht? In ihrem Beitrag geht Kathrin Senger dieser Frage auf den Grund.

Die schrecklichen Ereignisse der Schulamokläufe in Erfurt (2002) und Winnenden (2009) sind sicherlich noch vielen im Gedächtnis. Ebenso wie das Unglück bei der Loveparade in Duisburg (2009), der Absturz der Germanwings Maschine (2015) und das Attentat am Münchner Olympiazentrum im Jahr 2016. An alle diese Ereignisse haben sich jeweils öffentliche kirchliche Trauerfeiern angeschlossen; nach dem Germanwingsabsturz beispielsweise im Kölner Dom, unter der Beteiligung von etwa 1.400 Trauernden, darunter auch zahlreiche Politiker:innen.

Kontroverse Reaktionen

Diese Trauerfeiern haben in Deutschland in den letzten Jahren einen guten Anklang gefunden und haben sich angesichts katastrophaler Ereignisse als tröstende und stabilisierende Rituale erwiesen. So beschrieb 2016 der Journalist Matthias Drobinski das Trauerritual als Teil öffentlicher Bewältigungskultur und zählte die „Stunden der gemeinsamen Trauer zu den stärksten Momenten des Republikanismus, der Demokratie, der Zivilität in der Geschichte der Bundesrepublik.“[1] Kritik an den Trauergottesdiensten nach Großkatastrophen lässt indes ein Positionspapier der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ der Partei Bündnis 90/Die Grünen verlauten: Trotz einer stetig zunehmenden Anzahl von Nichtchrist:innen frage der Staat zu jenen Anlässen dennoch ausschließlich die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland an. Außerdem habe das Übergewicht von christlichen Inhalten, Ritualen und Repräsentant:innen eine vereinnahmende Dimension, die religionsfreie oder andersgläubige Menschen ausgrenzen könne. [2]

Ein gemeinsamer Akt von Kirche und Staat?

In der Tat: Trauerfeiern wie jene nach dem Flugzeugabsturz 2015 verbinden Gottesdienst und staatlichen Akt. Da Kirche und Staat in Deutschland voneinander getrennt sind, werden die Gottesdienste jedoch formal getrennt von den Staatsakten durchgeführt. Meistens finden diese Staatsakte unter dem Dach großer Kirchen statt und schließen regelmäßig an einen ökumenischen Gottesdienst an. So auch in Köln 2015. Auch diese Trauerfeier war formal zweigeteilt in Gottesdienst und staatlichen Trauerakt, in der Wahrnehmung handelte es sich aber eher um eine durchgehende Veranstaltung: Die staatlichen Redner:innen haben den Gottesdienst mitgefeiert, beide Teile haben im gleichen Raum stattgefunden, beinahe nahtlos ging der Gottesdienst in den staatlichen Trauerakt über.[3] Eingeladen zu den Trauerfeierlichkeiten hat die damalige Ministerpräsidentin von NRW, Hannelore Kraft. Aber kann denn eine Ministerpräsidentin, die gesetzlich an die weltanschauliche Neutralität gebunden ist, zu einem weltanschaulich gebundenen Gottesdienst einladen? Und warum hält man überhaupt an diesem Format fest, wenn – wie das oben genannte Positionspapier treffend feststellt – die Anzahl der Nichtchrist:innen in Deutschland stetig steigt?

Trauerfeiern als Dienst am Gemeinwesen

Seit 1918 ist in der Weimarer Reichsverfassung verankert, dass es keine Staatskirche in Deutschland gibt (Art. 137 GG). Damit sind Kirche und Staat rechtlich wie organisatorisch getrennt. Gem. Art. 4 I GG versteht sich der Staat als weltanschaulich neutral. Charakteristisch für die deutsche Trennung von Staat und Kirche ist allerdings, dass die Religionsfreiheit positiv und nicht negativ bestimmt ist.  Das bedeutet, dass religiöses Leben gezielt ermöglicht wird. Der Staat, der im Dienst des Gemeinwohls und der Freiheitsentfaltung seiner Bürger:innen steht, ist darauf angewiesen, dass diese die Freiheitsangebote auch wahrnehmen und sich im Sinne einer bürgerlichen Gesellschaft in Vereinen, Verbänden und auch Kirchen engagieren.[4] Deshalb schafft der Staat auch Freiräume zur Entfaltung kirchlichen Lebens.

Dass die Kirchen in Deutschland nach wie vor für solche Trauerfeiern angesprochen werden, mag vor allem daran liegen, dass diese über Deutungspotentiale verfügen, die dem weltanschaulich neutralen Staat unverfügbar sind.

Es scheint, als ob die säkulare Gesellschaft in diesen Momenten der Religion und ihrer Deutungsmuster bedarf. Der Theologe Rolf Schieder ordnet die christliche Liturgie bei der Feier im Kölner Dom als Teil einer größeren Inszenierung ein, die sich auf Initiative und in Verantwortung des Staates ereignete.[5] Seine These lautet, dass es sich bei der Feier um ein zivilreligiöses Ritual handelte, das der Wiederherstellung erschütterten Vertrauens diente und spricht hier von einem Stellvertretermodell, weil die Gottesdienste die zivilreligiöse Aufgabe übernehmen, die Gesellschaft in Krisensituationen an ihre geistigen Grundlagen zu erinnern und die Gemeinschaft zu repräsentieren.[6]  Die Kirche leistet dem Gemeinwesen sozusagen einen Dienst.

Reicht multireligiöse Beteiligung?

Der Herausforderung von Multireligiosität und Säkularisierung begegnete der Gottesdienst in Köln mit einerseits multireligiöser Beteiligung und andererseits anschlussfähigen und deutungsoffen Symbolen. So waren an der Liturgie selbst nicht nur der katholische Kölner Erzbischof Woelki, die evangelische Präses Kurschus und der griechisch-orthodoxe Metropolit Lambardakis beteiligt, sondern auch eine Angehörige mit unbekannter Konfessionszugehörigkeit, ein Mitglied einer jüdischen Gemeinschaft und eine muslimische Notfallbegleiterin, die beide eine Fürbitte verlasen. Die Anrede bei der Einleitung aller Fürbitten lautete: „Du Gott bei den Menschen“ und war damit so gewählt, dass sich auch Angehörige des Islam darauf einlassen konnten.[7] Als Symbole wurden 150 brennende Kerzen und Engel aus Holz gewählt, die an die gesamte Trauergemeinschaft verteilt wurden. Als Symbol des Beistands und Schutzes werden Engel sowohl in religiösen als auch säkularen Kontexten verstanden – sie sind damit interpretationsoffen. Entkräftet das die Kritik des Positionspapiers? Sicherlich nicht. Auch unter multireligiöser Beteiligung und der Verwendung deutungsoffener Symbolik blieb der Gottesdienst als solcher ein christlicher und damit auch gefüllt mit christlichen Inhalten, Ritualen und Repräsentant:innen.

Die Herausforderung bleibt

Die Frage nach der Rechtfertigung der bisher automatischen Verbindung von Staatsakten mit dezidiert christlichen Gottesdiensten bei Trauerfeiern nach Großkatastrophen bleibt richtig und wichtig.

Eine breite öffentliche Debatte hat bisher jedoch noch nicht stattgefunden. Das mag auch daran liegen, dass die bisher gewählte Form gut ankommt.

Ob das in Zukunft so bleiben wird, ist eine andere Frage und ein Lernfeld, das zukünftig erprobt werden muss. Über den Gottesdienst im Kölner Dom jedenfalls urteilte Drobinski in der Süddeutschen Zeitung:

„[…] Es gibt keinen billigen Trost, keine Schicksalsbewältigung im Sonderangebot […] Für den, der das hofft, war der Trauergottesdienst im Kölner Dom ein zweckloses Ritual. Er hat die Welt nicht wieder heil gemacht. Und trotzdem versammeln sich die Leute in der Kirche, wenn eine Katastrophe über sie hereingebrochen ist und den Boden erschüttert, auf dem sie eben noch glaubten, zu stehen – die Mächtigen und Wichtigen des Landes eingeschlossen […] Man musste nicht religiös sein, um zu merken, wie dringend eine Gesellschaft solche Orte und Rituale braucht, wie säkular sie sonst durchs Leben zu gehen pflegt. […] Das Ritual […] bleibt ohne Fragen und ohne Antwort. Es ist da, es ist vorgegeben und alles andere schweigt. […] Sie [gemeint: Rituale] begründen eine Gemeinschaft, die nicht erst die Bedingungen der Zusammengehörigkeit ausdiskutieren muss […] Nein, ein Gottesdienst mit Kerzen, Gebet und Gesang klärt nicht, ob ein Flugzeugabsturz hätte verhindert werden können, ob Piloten besser psychisch betreut werden müssen oder die Türsicherungen zum Cockpit verändert gehören. Er ist ein Ort des Zwecklosen, Fraglosen, Antwortlosen. Und gerade darin liegt sein Sinn.“[8]

Die Inszenierung öffentlicher Trauer nach einer Großkatastrophe ist und bleibt eine große Herausforderung. Während politische Positionspapiere wie das der Grünen das Übergewicht christlicher Rituale und Deutungen in jenen Feiern kritisieren, heben andere die Wichtigkeit jener Rituale hervor. Letztlich ist die Frage entscheidend, welche Art der Inszenierung Trauernden Trost und Hoffnung spenden kann. Dass die christlichen Kirchen bis heute immer wieder dafür angefragt werden, spricht für ihre rituelle Kompetenz und ein Gelingen dieser Trauerfeiern. Auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der immer weniger Menschen einer Religion angehören, bieten sich vielleicht bald auch andere Möglichkeiten der Inszenierung von öffentlicher Trauer an. Ob und wie jene gelingen, wird die Zukunft zeigen.

[1] Drobinski: Trauerfeiern. Die Stärke der ritualisierten Trauer. SZ vom 01.08.2016.

[2] Vgl. Bündnis90/Die Grünen Abschlussbericht der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“

[3] Vgl. Waßweiler: Katastrophen und Hoffnung, 73.

[4] Vgl. Saberschinsky: Gottesdienst im Spannungsfeld von kirchlicher und staatlicher Feier, 102.

[5] Vgl. Schieder: Die Inszenierung einer Tragödie, S. 142.

[6] Vgl. Saberschinsky: Gottesdienst im Spannungsfeld von kirchlicher und staatlicher Feier, 106.

[7] Vgl. Schieder: Die Inszenierung einer Tragödie, 151.

[8] Drobinski: Gedenken an Opfer vom Germanwings-Absturz. Das Unfassbare bekommt eine Fassung. SZ vom 17.04.2016.

Kathrin Senger

Kathrin Senger studiert katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

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