Mein Thema und ich – Philipp Graf
Was steckt hinter der Gewalt in Jos 10? Wie hängt das mit der prophetischen Kritik am Königtum zusammen? Was bedeutet diese Sozialkritik für die Sozialkonstitution der Kirche und das Volk Gottes? - Diesen Fragen geht Philipp Graf in seiner Dissertation in der alttestamentlichen Exegese von Jos 10 nach. Wir zeigen einen Auszug seiner wichtigsten Erkenntnisse.

- Wie hat das Thema dich gefunden?
Das Buch Josua insgesamt verbinde ich mit meinem Studienjahr in Jerusalem vor gut zehn Jahren. Die theologisch-politische Dimension dieses Buches drängt sich einem in Israel/Palästina, besonders in Jerusalem, geradezu auf. Dort inspirierte mich Prof. Dr. Egbert Ballhorn mit einer mir bislang unbekannten Herangehensweise an das Buch Josua. In einem Vortrag legte er mit seiner kanonisch-intertextuellen und rezeptionsästhetischen Methode unter der vermeintlich gewaltsamen Oberfläche der Josua-Erzählungen die anspruchsvolle Theologie des Buches frei. Da wusste ich: Mit dieser Methodik lässt sich noch viel mehr herausfinden – besonders im Buch Josua!
- Was findest du daran so faszinierend?
Faszinierend daran ist, wie tiefgründig das Buch Josua wird, wenn man es nicht als historischen Bericht oder gar als Blaupause für einen »Conquest of the West/ Palastine/ …« liest, sondern – aufgrund seiner Einbettung in die Hebräische Bibel – als eine Blaupause für ein Leben unter der Tora. Besonders gut lässt sich das an dem Kapitel zeigen, das im Fokus meiner Arbeit steht: Jos 10. Darin zeigt sich das Buch Josua als ein zutiefst machtkritisches Buch, das die Aporien von Machtpolitik gleich zu Beginn von Israels Geschichte im Land offenlegt.
- In welchem Fach konntest du mit dem Thema andocken?
Meine Arbeit ist natürlich zuallererst exegetisch. Allerdings beschreite ich mit meiner Methode neue Wege. Ich wende eine soziologische Rollentheorie nicht etwa auf die Welt hinter dem Text, sondern auf die Welt des Textes an. Bisher wurden soziologische Theorien in der Exegese fast ausschließlich dazu genutzt, um die Sozialgeschichte der Welt zu erschließen, in der die biblischen Texte entstanden sind. Dagegen versuche ich, zu erklären, welche soziale Welt und speziell welche Rollen (z. B. „Prophet“) die biblische Erzählung, wie sie sich heutigen Leser:innen darbietet, selbst aufbaut.
- Welche wertvollen Entdeckungen hast du beim Schreiben gemacht?
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass die besiegten und hingerichteten kanaanäischen Könige in Jos 10 eigentlich für die israelitisch-judäischen Könige bzw. das Königtum in Israel insgesamt stehen. Das zeigen unzählige intertextuelle Verbindungen von Jos 10 zu den Texten v. a. rund um den Untergang des Jerusalemer Königtums in der babylonischen Krise (Anfang des 6. Jahrhunderts v. Chr.). Jos 10 übt ungeschönte und extreme Kritik am Königtum, das das Volk Israel von der Tora entfremdet, weil es in sich Israel fremd ist. Israel soll sich nicht wie die anderen Völker einen König geben, weil Gott sein König ist. Gottes Tora ist die Gewähr für Recht und Gerechtigkeit, die – das zeigt die damalige wie die heutige Geschichte – von Autokraten mit Füßen getreten werden. Josua wird dagegen als positives Gegenmodell aufgebaut. Er ist der Tora treu. Und als Prophet, der auf die Tora verweist, opponiert er gegen das Königtum.
- Was hat Dir geholfen, durchzuhalten und mit der Arbeit fertigzuwerden?
Zuerst die Familie: Während meine Frau und ich an unseren Doktorarbeiten gearbeitet haben, haben wir geheiratet, unsere Tochter ist auf Welt gekommen und jetzt, nach der Abgabe meiner Doktorarbeit, unser Sohn. Ich habe es recht gut geschafft, Zeit zum Arbeiten und Zeit für die Familie klar zu trennen und zu priorisieren. Kinder ziehen einen in eine andere Welt, die so viel realer ist als die Welt der Gedanken, in der man während der Arbeit an der Dissertation manchmal wie gefangen scheint.
Das Zweite sind die Studierenden. Ohne das Privileg, in meinem Beruf nicht nur eine Dissertation zu verfassen, sondern auch Lehrveranstaltungen anzubieten, hätte ich das nicht durchgehalten. Durch diese war ich nicht nur gezwungen, mich in andere Themen einzuarbeiten und diese aufzubereiten. Sie zwangen mich auch, aus meiner Forschungsblase herauszukommen und die Lebensrealität der Studierenden ernst zu nehmen. In der Interaktion mit Studierenden entsteht so viel, was allein am Schreibtisch nicht entstehen würde: neue Perspektiven, neue Ideen, neue Erkenntniswege. Und nicht zuletzt entfalten Bibeltexte in der Gruppe eine andere Dynamik als in der stillen Lektüre.
- Was wird die Leser*innen vermutlich überraschen?
Inhaltlich überraschen wird Leser*innen vermutlich, dass sich so eine scharfe Kritik am Jerusalemer Königtum bereits im Buch Josua findet, obwohl Jerusalem erst bei König David eine Rolle spielt und man Königskritik frühestens mit dem Buch der Richter verbindet.
Überraschen und herausfordern wird auch meine Methode. Ich gehe ja von Leser*innen aus, die theoretisch die ganze Bibel im hebräischen (!) Wortlaut auswendig können. Diese Leser*innen simuliere ich mit der Computerkonkordanz. Das sieht vordergründig wie eine hochmoderne Bibellektüre aus, kommt aber wohl tatsächlich der vormodernen Art und Weise näher, Bibel zu lesen bzw. zu rezipieren.
Auch das Design der Arbeit wird überraschen: Ich gehe nicht davon aus (auch wenn ich mir das wünschen würde), dass jemand die ganze Arbeit von vorne bis hinten lesen wird. Deshalb habe ich schon bei der Konzeption darauf geachtet, dass durch Einleitungen und Zwischenfazits jedes Kapitel der Arbeit in sich gut lesbar ist. Viele Querverweise machen dann deutlich, welche roten Fäden durch die gesamte Arbeit laufen.
- Mit wem würdest Du Dich gerne mal über Deine Arbeit austauschen – und warum?
Als Fachwissenschaftler*innen fallen mir zwei Personen ein: Sarah L. Hall, deren Dissertation für mich sehr inspirierend war. Dafür würde ich ihr gerne danken. Der zweite ist Ernst Axel Knauf, dem ich ebenfalls viel verdanke. Sein unglaubliches Wissen und sein origineller Zugriff auf biblische Texte sind faszinierend.
Natürlich würde ich gerne mit Benjamin Netanjahu oder noch besser seinen rechtsextremen Koalitionspartnern über ihr Verständnis des Buches Josua sprechen. Was wir nämlich gerade in Gaza sehen, erinnert mich leider an eine fatale Auslegungstradition des Buches Josua. Ich weiß natürlich, dass solch ein Gespräch politisch brisant wäre. Aber mich würde doch interessieren, ob die verantwortlichen Politiker (es sind ja meist Männer) um die Tiefendimensionen des Buches Josua wissen: Seine Theologie hat nicht die Vertreibung der Ureinwohner, sondern die Bindung Israels an die Tora zum Ziel. Und die Tora kann Fremde (Stichwort Gibeoniter, siehe Jos 10,1) integrieren.
- Wo könnten Deine Erkenntnisse weiterhelfen – und was würde sich damit ändern?
Meine Erkenntnisse könnten helfen, zu verstehen, wie das Gottesvolk sozial konstituiert sein kann. Mit „Gottesvolk“ meine ich hier auch die Kirche, denn das Buch Josua ist natürlich auch Teil des christlichen Alten Testaments. Das Buch Josua zeichnet eine mythische Idealzeit, die Anfänge des Gottesvolkes im Land. Das Volk Gottes zieht durch das Wasser des Jordans ins Land; die Kirche als das andere Volk Gottes konstituiert sich durch das Wasser der Taufe und zieht in immer neues Land. Wenn die Kirche das ernst nimmt, könnte sie sich am Buch Josua orientieren und ihre Sozialstruktur kritisch revidieren. Josuas Führungsamt ist eben keine feste Institution, sondern Josua handelt nach den Erfordernissen der Situation: Solange das Volk Gottes sich an der Tora orientiert, handelt er in Einheit mit dem Volk; sobald es diese Orientierung verliert, handelt er als prophetisches Gegenüber. Wenn man das auf die Kirche überträgt, würde das ein viel interaktiveres Verständnis des Amtes bedeuten: mehr von den Erfordernissen der Situation und der Menschen in der jeweiligen Gemeinde, weniger von den Erfordernissen der Institution her gedacht. Daher könnte man bei den deutschlandweiten Reformen pastoraler Räume fragen: Von welchen Erfordernissen her denkt man? Und: Unterstellt man dem Volk die Treue zum Wort Gottes? Und wenn nicht: Wo sind eigentlich die Prophet*innen?
- Die Arbeit in sieben Hauptsätzen.
Jos 10 handelt nur vordergründig vom Verteidigungskrieg gegen eine Koalition von fünf Königen, deren Gefangennahme und Hinrichtung sowie von der Eroberung ihrer Städte. Die Tiefendimension erschließt sich, wenn man den Text im Kontext der Hebräischen Bibel liest. Dann wird hier die Kritik am Jerusalemer Königtum in Israel erzählerisch inszeniert und nach außen verlagert. Der prophetisch agierende Josua steht dann auf der erzählerischen Ebene fünf kanaanäischen Königen gegenüber, auf der intertextuellen aber den israelitischen und judäischen Königen. Josuas Treue zur Tora widerspricht deren Untreue zur Tora, die schließlich in den Untergang Jerusalems 587 v. Chr. geführt hat. Mit dieser Konstellation Josua vs. Könige wird der grundsätzliche Konflikt zwischen Prophet:innen und König:innen in den sog. Vorderen Propheten vorweggenommen. Dieser Konflikt dreht sich schon im Buch Josua um eine Frage: Ist das Gottesvolk der Tora Gottes, dem Maßstab von Recht und Gerechtigkeit, treu?
Philipp Graf
Philipp Graf studierte Theologie (Magister) und Latinistik (Lehramt) in Freiburg und Jerusalem und hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dortmund gearbeitet. Seit 2022 arbeitet er in gleicher Funktion an der Universität Freiburg. Er spielt gerne kernige Töne auf dem Tenorsaxophon.
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