Einsamkeit – das notwendige Übel unserer heutigen Zeit?

„J’suis pas tout seul à être tout seul / Ça fait d’jà ça d’moins dans la tête / Et si j’comptais, combien on est / Beaucoup”. So beginnt das kürzlich veröffentlichte Lied L’Enfer (deutsch: die Hölle) des belgischen Musikers Stromae. Stromae, der durch den Song „Alors on danse“ große Bekanntheit erlangte, hat damit wohl einen Nerv unserer Zeit getroffen.

Auf dem Bild sieht man einen Mann in einem dunklen Zimmer an einem Schreibtisch sitzen. Das einzige Licht ist eine Schreibtischlampe.

“Ich bin nicht alleine damit, einsam zu sein. […] Und wenn ich all die Menschen wie mich zählen würde, wären wir viele.“ So könnte man die ersten Zeilen übersetzen. Und in der Tat, immer mehr Studien bestätigen zunehmende Einsamkeitsgefühle. Und das nicht nur unter älteren Menschen, sondern auch und vor allem unter jungen Leuten, nicht zuletzt durch Maßnahmen aufgrund der Corona Pandemie. Einige Länder wie beispielsweise Großbritannien oder Japan reagieren darauf sogar auf politischer Ebene mit Einsamkeitsministerien.

Einsamkeit ist mehr als die bloße Abwesenheit von Menschen. Im Alleinsein muss ich mich nicht zwangsläufig einsam fühlen, andersherum kann ich unter vielen Menschen dennoch einsam sein.

Einsamkeit trotz vielfältiger Vernetzung?

Dabei sind doch vor allem wir jungen Menschen eigentlich auf vielfältige Weise vernetzt. „Ihr jungen Leute habt es gut“ meinte daher auch meine Tante einmal zu mir am Telefon, als wir uns gerade wieder in einem Lockdown befanden. „Ihr seid über das Internet in guter Verbindung miteinander, könnt Euch per Videoanruf sehen und schreiben, wann Ihr wollt.“

Das stimmt zwar, aber sind wir deshalb weniger einsam? Sprechen nicht genannte Studien eine andere Sprache? Einsamkeit ist mehr als die bloße Abwesenheit von Menschen. Im Alleinsein muss ich mich nicht zwangsläufig einsam fühlen, andersherum kann ich unter vielen Menschen dennoch einsam sein. Es geht darum, ob wir anderen vertrauen, uns auf sie einlassen können, wir uns verstanden fühlen und ob wir uns als Teil einer größeren Gemeinschaft verstehen. Und gerade dieses Gemeinschaftsgefühl geht verloren, wenn wir alle allein vor unseren Bildschirmen sitzen. Das mag besser sein als nichts und grundsätzlich eine tolle Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben, aber es ist kein Ersatz für Umarmungen, durchtanzte Nächte, Geburtstagsfeiern oder gemeinsam durchgestandene Tiefen des Lebens.

Zersplitterte Gemeinschaft

Und obwohl wir uns mittlerweile nicht mehr in einem Lockdown befinden, uns teilweise sogar wieder live an der Uni sehen: Das große Gemeinschaftsgefühl bricht dennoch nicht über uns herein. „Ich habe gerade das Gefühl, jede:r ist nur noch mit sich selbst beschäftigt.“ Diesen Gedanken sprach eine gute Freundin von mir kürzlich aus. Ich musste an den Soziologen Andreas Reckwitz und seine These von der Gesellschaft der Singularitäten denken. Reckwitz attestiert unserer Gesellschaft eine vermehrte Vereinzelung als Konsequenz von zunehmender Individualisierung. Immer mehr Einzigartigkeit jeder:jedes Einzelnen zerlegt die Gemeinschaft in viele kleine Einzelteile. Was tun? „Einsamkeit ist eine Begleiterscheinung des Lebens.“1 Das schreibt auch der Autor Daniel Schreiber in seinem 2021 erschienenen Buch „Allein“. Einsamkeit also als Teil der conditio humana? Ja vielleicht. Und dennoch sind wir nicht verflucht, auf ewig in ihr zu verharren. Das Gemeine an der Einsamkeit ist, dass sie uns lähmt und gefangen hält. Wir sprechen nicht gerne darüber. Zu sehr kleben Schuld, Scham, Tabu und die Annahme eines persönlichen Versagens daran. Die Einsamkeit selbst sorgt dafür, dass wir uns noch mehr zurückziehen und am Ende sind wir so viele, die im Boot desselben Gefühls sitzen und uns dabei doch einsam und verlassen fühlen. Genau wie Stromae es beschreibt.

Was tun?

Die Reaktion auf einen solchen Befund von zunehmender Vereinzelung und Einsamkeit kann keine schnelle Komplettlösung sein. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind politische Handlungen erforderlich. Es muss nicht gleich das Einsamkeitsministerium sein, aber Forschungsbudgets, Diskurse zu mehr Verantwortung, neue Modelle von Partizipation, mehr kulturelle Teilhabe von Älteren, Vermeidung von ständigen disruptiven Veränderungen in Erwerbsbiographien durch Kettenbefristungen oder maximale Erwartungen an Flexibilität gerade von jungen Arbeitnehmer:innen, wären Schritte in die richtige Richtung.
Und in unseren eigenen persönlichen Beziehungen? Da könnten wir schon mal damit beginnen, mehr darüber zu sprechen. Den Umhang des Tabus lüften. Anderen zuhören, wenn sie über Einsamkeit sprechen und nicht peinlich berührt das Thema wechseln oder mit abgedroschenen „Such‘ Dir halt ein Hobby“-Floskeln antworten. Die eigene Einsamkeit anzusprechen, genauso wie dem Gegenüber zuzuhören, aushalten, statt schnelle unterkomplexe Lösungen vorzuschlagen, das alles kann schmerzhaft und anstrengend sein – aber auch befreiend. Und gemeinschaftsstiftend.


1 Schreiber, Daniel, Allein, Berlin 2021, 40.

Vertiefende Literatur:

Kinnert, Diana/Bielefeld, Marc, Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können, Hamburg 2021.

Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.

Schreiber, Daniel, Allein, Berlin 2021.

Beitragsbild: https://www.pexels.com/de-de/foto/mann-hand-nacht-apple-4069292/

Kathrin Senger

Kathrin Senger studiert katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

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