Drei Fragen an Ansgar Wucherpfennig

Gerechtigkeit als Leitperspektive biblischer Ethik? Der Neutestamentler Ansgar Wucherpfennig, Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, hat in einem Werkstattbericht Einblick in die Thesen aus einem Forschungsprojekt zur Gerechtigkeit in der Bibel präsentiert.

Symbolbild Gerechtigkeit

zwoelf57: In Ihrem Forschungsprojekt zusammen mit Ilse Müllner betrachten Sie Gerechtigkeit als das übergeordnete Konzept der Bibel. Welche Aspekte von Gerechtigkeit betonen biblische Schriften denn in besonderem Maße?

Wucherpfennig: Zunächst herzlichen Dank für die Einladung, bei dem Blog zwoelf57 mitzumachen. Das Jesuswort im Titel des Projekts (Lk 12,57: „Warum findet ihr nicht von selbst das rechte Urteil?“) lässt sich gut mit unserem Verständnis von Gerechtigkeit in der Bibel vereinbaren, denn für die Bibel ist Gerechtigkeit kein zeitinvariantes, ewig wahres Gesetz, sondern eines, das Menschen immer wieder neu herausfordert, selbst mit Gottes Wort ein gerechtes Urteil zu fällen.

Unser Forschungsprojekt bemüht sich um eine biblische Ethik. Gerechtigkeit ist uns deshalb als eine heuristische Leitperspektive wichtig, die einer Ethik beider Testamente Richtung und Kontur geben kann. Für die Bibel ist Gerechtigkeit ein Ziel, das immer neu ausgehandelt und in gesellschaftliche Wirklichkeit umgesetzt werden muss. Oft wird dabei aus einer Unrechtssituation heraus um (größere) Gerechtigkeit verhandelt. Tamar verhandelt mit Juda, Mose und Aaron verhandeln mit dem Pharao, Hanna mit dem Priester Eli, Natan mit König David, Ijob mit Gott, Jesus mit den Pharisäern, Paulus mit der Gemeinde in Korinth. Dabei geht es oft auch um Verteilungsfragen.

Prof. Dr. Ansgar Wucherpfennig SJ

Bei dem US-amerikanischen jüdischen Sozialphilosophen Michael Walzer lese ich den Satz: „Gerechtigkeit ist ein menschliches Konstrukt; und es steht keineswegs fest, dass sie nur auf eine einzige Weise hergestellt werden kann.“ Dieser Satz ist ein Plädoyer für ein plurales, diversitätsfähiges Gerechtigkeitskonzept, das ich von der Bibel her teilen kann. Allerdings ist Walzers Ansatz anthropozentrisch. Er schreibt: „Menschen verteilen Güter an (andere) Menschen.“ Sicher haben die Menschen auch in der Bibel einen hohen Wert, der sie in der Schöpfung unvergleichbar macht, sie sind Ebenbilder Gottes, nehmen Gottes Sorge und Achtung für die Schöpfung wahr. Dennoch geht die biblische Perspektive der Gerechtigkeit da weiter. Auch die mitmenschliche Schöpfung hat an der Verteilung der Güter teil. Rind, Esel und alles Vieh haben nach dem Dekalog am Sabbat ein Recht auf einen fröhlichen Festtag (Dtn 5,14). Und im Römerbrief schreibt Paulus, dass die gesamte Schöpfung von der Versklavung unter die Vergänglichkeit befreit werden soll hin zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,21). Das hängt damit zusammen, dass die Bibel Gerechtigkeit in einem großen diachronen und synchronen, immanenten und transzendenten Netz von Beziehungen versteht, die nicht auf die menschliche Welt begrenzt sind.

zwoelf57: Auch Barmherzigkeit und Liebe sind bedeutende biblische Handlungsdimensionen. Die Gerechtigkeit nimmt für Sie jedoch einen übergeordneten Rang ein. Weshalb nicht die Liebe oder die Barmherzigkeit?

Wucherpfennig: Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind in den biblischen Schriften ja häufiger zusammen genannt, z. B. in Ps 112,4: „Im Finstern erstrahlt er als Licht den Redlichen: Gnädig und barmherzig ist der Gerechte.“ Barmherzigkeit gehört also zu den Eigenschaften eines gerechten Menschen. Auch Gott vereinbart in sich beides, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Die rabbinische Tradition hat sie den beiden biblischen Namen Gottes zugeordnet. Ein Rabbi aus dem 3. Jhdt. wird so zitiert: Wo immer in der Bibel JHWH geschrieben stehe, bezeichne dies seine Barmherzigkeit. Wo immer Elohim geschrieben stehe, bezeichne dies seine Gerechtigkeit. Die beiden sind also nicht getrennt voneinander zu verstehen. Vielleicht kann man es so sagen:

Barmherzigkeit macht eine egalisierende Gerechtigkeit diversitäts- und pluralitätsfähig. Gerechtigkeit scheint aber der im biblischen Kanon in allen Teilen präsentere und übergeordnete Wert zu sein.

Auch die Liebe lässt sich im biblischen Verständnis der Gerechtigkeit zuordnen. Die Bibel versteht Liebe primär von der sozialen Solidarität her, sie verleiht dieser eine zusätzliche affektive Kraft. Mit diesem Verständnis ist auch die Liebe nahe an der Gerechtigkeit. Das zeigt der Kontext des Liebesgebots Lev 19,18 ganz deutlich. Unmittelbar davor ist vom gerechten Rechtsentscheid und von der Unparteilichkeit die Rede (Lev 19,16). Eine biblische Ethik braucht, um konkret zu werden und nicht in lauter Einzelaspekte zu zerfallen, unseres Erachtens eine übergreifende Handlungsperspektive. Daher lässt sich Gerechtigkeit mit einer heuristischen Methode als leitende Handlungsperspektive begründen und mit der Liebe – sofern sie nicht emotional enggeführt wird – verbinden.

zwoelf57: Welche Konsequenzen hat das biblische Gerechtigkeitsverständnis für das Handeln der katholischen Kirche?

Wucherpfennig: Christinnen und Christen können sich bei kirchlichen Gerechtigkeitsdiskussionen nicht wörtliche Bibelzitate um die Ohren hauen. Das kommt leider immer noch zu oft vor. Das gibt aber das biblische Gerechtigkeitsverständnis nicht her. Sondern was jeweils gerecht ist, ist heute in aktuellen Kontexten anhand konkreter Fragen neu auszuhandeln. Biblische Widerstandsgeschichten können dafür wichtige Modelle sein, denn oft wird Gerechtigkeit in der Bibel eben gegen ungerechte Machtstrukturen ausgehandelt.

Ein Beispiel, an dem dies leider immer noch nicht oft genug klargemacht werden kann, ist das Problem der Verweigerung des Weiheamtes für Frauen in der katholischen Kirche. Papst Franziskus hat schon oft weltweit die Rechte von Frauen eingeklagt.

Das Eintreten der Kirche gegen die weltweite Benachteiligung von Frauen wird aber erst dann glaubwürdig, wenn die Kirche dies auch in ihren eigenen Strukturen berücksichtigt.

Sicherlich hat eine Gemeinschaft das Recht, Kriterien für die Zulassung zu ihren Leitungsämtern aufzustellen. Jesus hat für die Zwölf, die das eschatologische Gottesvolk repräsentierten, Juden aus dem Volk Israel ausgewählt. Ob ihm auch ein wichtiges Kriterium war, dass sie Männer waren, lässt sich nicht erkennen, und selbst wenn es so wäre, würde das für die heutige Situation kein Argument sein. Die Kirche ist ja heute eine weltweite Gemeinschaft, der nur sehr wenige getaufte Jüdinnen und Juden angehören, und auch in der jüdischen Synagoge gibt es heute anerkannte Rabbinerinnen. Aus der Bibel ist daher auch kein Grund erkennbar, warum Weiheämter nicht für Frauen geöffnet werden können.

 


Ansgar Wucherpfennig ist Jesuit und Lehrstuhlinhaber für Neues Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. In einem Projekt mit Ilse Müllner, Professorin für Biblische Theologie am Institut für Katholische Theologie an der Universität Kassel, forscht er aktuell zum Thema „Ge­rech­tig­keit aus der To­ra als Leit­per­spek­ti­ve ei­ner ge­samt­bib­li­schen Ethik“.

Lukas Schmitt, Jannik Schwab

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