Das Kind im Stall von Bethlehem – Franz von Assisis Versuch, Menschwerdung zu verstehen.
Maria und Josef mit dem Kind in der Krippe: Sie gehören zu Weihnachten dazu. Aber erst seit achthundert Jahren. Wenn das Kind in der Krippe wieder verschwände, was fehlte? Und warum ließ Franz von Assisi damals die biblische Geschichte nachstellen?
Krippe von Rudi Bannwarth in Karlsruher Kirche St.Stephan, 2019. Foto von Achim Kaltwasser
Ein genialer Einfall mit Folgen bis heute. Nach der spätestens Anfang 1229 fertiggestellten Lebensbeschreibung des Thomas von Celano hat Franz von Assisi Weihnachten 1223 zum ersten Mal so gefeiert, wie es danach selbstverständlich geworden ist, mit Ochs und Esel und einer Krippe im Stall. Seinem Gastgeber in Greccio erklärte er: „Ich möchte nämlich das Gedächtnis an jenes Kind begehen, das in Betlehem geboren wurde, und ich möchte die bittere Not, die es schon als kleines Kind zu leiden hatte, wie es in eine Krippe gelegt, an der Ochs und Esel standen, und wie es auf Heu gebettet wurde, so greifbar als möglich mit leiblichen Augen schauen.“
„Leibliche Augen“. Ein bemerkenswerter Ausdruck. In der Theologie ist er mit einem Fragezeichen verbunden, geht es in ihr doch um das Sehen mit „geistigen Augen“, um Gedanken und nachvollziehbares Denken. (Wo kämen wir hin, wenn wir alle Zusprüche der Bibel mit „leiblichen Augen“ sehen wollten? Allen voran Gal 3,28 „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“.) Das genügte Franz von Assisi nicht. Celano charakterisiert ihn so: „In eingehender Betrachtung rief er die Erinnerung an seine [Jesu] Worte wach und in nachspürender Erwägung überdachte er seine Werke. Vor allem war es die Demut der Menschwerdung Jesu und die durch sein Leiden bewiesene Liebe, die seine Gedanken derart beschäftigten, dass er kaum an etwas anderes denken wollte.“ Das ist nicht genau das, was man unter „Theologie“ versteht, denn das Element des Widerspruchs und Austauschs mit anderen fehlt, aber es ist nahe daran. „Betrachten“, „erwägen“, „(über)denken“ gehörten nach Celano zu Franz von Assisis Alltagsgeschäft. An Weihnachten wollte er mehr.
Der „Sitz im Leben“ der ersten Krippenfeier
Mit der Krippe traf Franz von Assisi einen Nerv seiner Zeit. Der lässt sich folgendermaßen bestimmen: Erstens wird „die bittere Not“ des Jesuskindes als solche wahrgenommen. Sie ist nur dann ein Problem, wenn auch anderes vorstellbar ist. Wenn alle Not leiden, ist eine Geburt in armseliger Umgebung nicht bemerkenswert. Das 13. Jahrhundert gilt als eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs. Menschen konnten es sich leisten, die von der Landwirtschaft lebenden Familien zu verlassen und ihre handwerklichen Fähigkeiten in den neu entstehenden Städten auszuprobieren oder dort mit den Erzeugnissen anderer Handel zu treiben. Die durch die Zeit der Völkerwanderung unterbrochene Geldwirtschaft kam wieder in Gang. Sie vergrößerte die Spanne zwischen reich und arm. Nicht benötigtes Kapital wurde in Schulen oder (Ho)spitäler investiert. In Freiburg begann man mit dem Bau des Münsters. So lässt sich die Armutsbewegung, zu der Franz von Assisi gerechnet wird, als Antwort auf Reichtum verstehen. Franziskus stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Zweitens scheint das Verhältnis von „sehen“ und „verstehen“ nicht nur für Franz eine Herausforderung gewesen zu sein. Wenige Jahre zuvor wird auf dem Vierten Laterankonzil für das, was sich in der eucharistischen Wandlung vollzieht und ebenfalls eine „geistige“ und „leibliche“ Dimension besitzt, zur Klärung der bis heute schwer zu verstehende Begriff „Transsubstantiation“ benutzt. Drittens gab es seit mindestens fünfzig Jahren Bewegungen, „Katharer“, „die Reinen“, genannt, die aufgrund ihres dualistischen Weltbildes die Menschlichkeit Jesu geringschätzten, den eigenen Leib verachteten und durch strengste Askese in den Himmel kommen wollten. Franziskus sah einem Katharer zum Verwechseln ähnlich. Aber der „Sonnengesang“ ist Ausweis seines Glaubens an Gottes gute Schöpfung und sein Enthusiasmus bei der Krippenfeier Ausdruck seiner Hochschätzung des Mensch gewordenen Gottes. Dass die Menschlichkeit Jesu in Vergessenheit geraten war, bemerkt auch Celano. Den Bericht von der Krippenfeier schließt er ab mit: „Ein frommer Mann hatte ein wunderbares Gesicht. Er sah nämlich in der Krippe ein lebloses Knäblein liegen; zu diesem sah er den Heiligen Gottes herzutreten und das Kind wie aus tiefem Schlaf erwecken. Gar nicht unzutreffend ist dieses Gesicht; denn der Jesusknabe war in vieler Herzen vergessen. Da wurde er ihnen mit seiner Gnade durch seinen heiligen Diener Franziskus wieder erweckt und zu eifrigem Gedenken eingeprägt.“
Und wenn sich die Zeiten ändern?
Wenn sich die Zeiten ändern, wird das Kind in der Krippe mit anderen Augen betrachtet. Den Stall von Betlehem haben die Menschen dorthin versetzt, wo sie wohnen, und Maria und Josef landesüblich angezogen, denn „Betlehem ist überall“ (aus dem Lied „Sage, wo ist Betlehem“). Seit Ende der 1980er Jahre wird das Friedenslicht von Betlehem verteilt. Viele wünschen, dass „Friede auf Erden“ werde und die Ankündigung der Engel wahr. Schließlich der Stern von Betlehem, dem die Sterndeuter aus dem Osten bis zur Krippe im Stall gefolgt sind. Gottsuchende warten, dass er für sie aufgeht. Nicht nur zur Weihnachtszeit.
Zur Zeit des Franz von Assisi drohte, über Jesus, dem Gottessohn, der den Wellen gebietet und am Ende der Zeiten richtet, der Mensch Jesus unterzugehen. Heute geht unter, dass die Menschwerdung Gottes in Jesus auch eine Aussage über den Menschen ist, über das, was in ihn hineingelegt ist, etwas Göttliches, und wozu er bestimmt ist, ein Sein bei Gott. Was auch immer damit gemeint ist. Es wird nichts Glänzendes, Großes, Gewalttätiges sein, denn es zeigte sich in einem Baby.
Barbara Henze
Barbara Henze studierte ab 1976 in Bochum und Münster Mathematik und katholische Theologie für das Lehramt an Gymnasien, schloss 1983 mit dem Staatsexamen und 1986 Theologie mit dem Diplom ab, seit 1988 in Freiburg im Breisgau, 1993 Promotion in Mittlerer und Neuerer Kirchengeschichte, von 1996 bis 2023 Akademische (Ober)Rätin für Frömmigkeitsgeschichte und Kirchliche Landesgeschichte. Schätzt die Fortführung des Faust-Zitats „grau ist alle Theorie“ durch „entscheidend is‘ aufm Platz“ (Adi Preißler).
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