Auch die Gesellschaft muss gesund bleiben

Der Frust angesichts der Impflücke wächst auf beiden Seiten: Ungeimpfte fühlen sich in der Gesellschaft herabgesetzt, Geimpfte verlieren mehr und mehr die Geduld mit ihnen und äußern Schuldzuweisungen. Angesichts dieser Entwicklung bröckelt der gesellschaftliche Zusammenhalt. Wie könnte ein konstruktiverer Umgang mit Ungeimpften aussehen?

Auf dem Bild sind mehrere Sspielfiguren zu sehen. Sie stehen eng beieinander.

Schließlich kommt es spätestens seit diesem Winter auch im näheren Umfeld oft zu zerstrittenen Familien, aufgekündigten Freundschaften oder äußert angespannten Situationen am Arbeitsplatz, sobald die Gretchenfrage gestellt wird: „Wie hältst du‘s mit der Corona-Schutzimpfung?“ Für die Geimpften ist das Impfen ein Akt der Solidarität, die Ungeimpften beharren dabei auf dem Recht ihrer persönlichen Freiheit. Nun scheint sich selbst bei hohen Amtsträgern der Ton gegenüber den Ungeimpften zu verschärfen, wie z. B. beim Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, der sogar von einer „Tyrannei der Ungeimpften“ sprach. Gäbe es eine Impfpflicht, wäre der Staat der Sündenbock. So aber verlagere sich der Konflikt ins Private und müsse von der Gesellschaft ausgetragen werden. Es bleibt also die Verantwortung für Einzelne, sich aufgrund einer moralischen Abwägung zu entscheiden.

Frust auf Ungeimpfte – nachvollziehbar, aber problematisch?

Aus Montgomerys Haltung spricht der Frust dieser Tage: Die Infektionszahlen sind hoch, die Intensivstationen stark belastet, die starken Einschränkungen im täglichen Leben deutlich spürbar. Unmittelbar drängt sich da der Gedanke auf: „Die Ungeimpften haben die Geduld verspielt“. So nachvollziehbar diese Haltung ist, gilt es trotzdem einmal innezuhalten: Könnte sie nicht zum Problem für den sozialen Zusammenhalt, für die demokratische Gesellschaft, die auch nach Pandemieende noch bestehen muss, werden? Aus dieser Befürchtung beurteilt die Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle Aussagen wie die von Montgomery sogar als „sehr gefährlich, weil sie unterschiedlich denkende Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufwiegeln“.

Der Konflikt um die Impfung wird in der Gesellschaft ausgetragen.

Welche Entwicklung nimmt der Konflikt um die Impfung gegenwärtig? Aus Sicht der Ungeimpften können Schuldzuweisungen an der aktuellen Lage als ungerecht empfunden werden, weil sie sie als Sündenböcke für alle Probleme der gegenwärtigen Situation darstellen. Diese Anschuldigung trifft zu, weil die derzeitige pandemische Lage zu einem großen Teil auf den fehlenden Impfschutz großer Bevölkerungsgruppen zurückzuführen ist. Darüber hinaus sind die aktuellen Probleme aber auch ein Resultat von politischen Versäumnissen im Pandemiemanagement, allein wenn man bedenkt, dass sich die  Arbeitsbedingungen und die Entlohnung von Pflegekräften immer noch nicht wirklich verbessert haben. In gewisser Weise ist die Beschwerde der Ungeimpften also gerechtfertigt. Für sie scheinen ihre sehr verschiedenen Gründe gegen die Impfung nicht gesehen zu werden. Stattdessen haben sie das Gefühl, als Kollektiv mit niederträchtigen Motiven verurteilt zu werden.

Die Geimpften dagegen spüren, dass sie darüber, wie andere ihre Freiheit verantworten, nicht verfügen können, auch wenn die Geimpften vom Standpunkt der Pandemiebekämpfung und der Solidarität die besseren Gründe haben. Das erzeugt bei ihnen ein Gefühl der Ohnmacht, die sich bisweilen in Wut und Ablehnung entlädt. Und dennoch bleiben die Grenzen des:der Anderen und wollen anerkannt und respektiert werden.

Die gegenwärtige Situation ist laut dem Chef des Rheingold-Instituts Stephan Grünewald auch deshalb so angespannt, weil die Impffrage durch den Staat nicht verbindlich geregelt ist. Gäbe es eine Impfpflicht, wäre der Staat der Sündenbock. So aber verlagere sich der Konflikt ins Private und müsse von der Gesellschaft ausgetragen werden. Es bleibt also die Verantwortung für Einzelne, sich aufgrund einer moralischen Abwägung zu entscheiden. Damit steigt der Druck, sich auch gegenüber anderen zu positionieren, und erzeugt bei den Geimpften die Tendenz, moralisierend aufzutreten. Die Reaktion der Ungeimpften auf die Anschuldigungen gegen sie ist dann das Gefühl des Trotzes und der Reaktanz.

Problematiken aus Sicht der Geimpften für einen konstruktiveren Umgang mit Ungeimpften

Für alle, die das Impfen als moralische Pflicht verstehen, wie es auch die Deutsche Bischofskonferenz und Papst Franziskus tun, ergibt sich daraus eine schwierige Situation.

Man will sich dafür stark machen, dass Impfen wichtig ist, um viele Krankheits- und Todesopfer zu verhindern, und muss es derzeit umso mehr, weil die Impfung sonst von Rechtspopulist:innen und Verschwörungsideolog:innen umgedeutet wird. Um dabei aber nicht in die Fallen der derzeitigen Lage zu tappen, ist eine Haltung nötig, durch die man den Ungeimpften auf Augenhöhe begegnen kann.

Schließlich bleiben sie Menschen mit Würde. Sie sind Freund:innen, Nachbar:innen, Kolleg:innen, also wichtige Mitglieder der Gesellschaft, die es wert sind, respektiert zu werden. Und gleichzeitig muss diese Haltung ermöglichen, die Position, dass Impfen richtig ist, entschieden vertreten zu können.

Impfen ist eine moralische Pflicht, Ausgrenzung nicht.

Diese beiden Verpflichtungen zu vereinen, gleicht einem Spagat. Hilfe kann das Bewusstsein bringen, dass die Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht, nicht den ganzen Menschen ausmacht. Einzelne Entscheidungen können zwar als solidarisch oder unsolidarisch beurteilt werden; einen Menschen oder eine ganze Gruppe per se als unmoralisch zu verurteilen, erlaubt dies jedoch nicht. Mit großer moralischer Überlegenheit aufzutreten oder Ungeimpfte gar menschlich herabzuwürdigen und auszugrenzen, ist daher nicht angebracht.

Statt Schuldzuweisungen auszusprechen, ist es wichtig, immer wieder aufeinander einzugehen, auch wenn die Fronten schon verhärtet scheinen. Für beide Seiten gilt: Wir müssen versuchen, die Motive der anderen zu verstehen, und die eigenen Gründe und Überzeugungen einander verständlich machen. Die Corona-Pandemie kann nur mithilfe der Impfungen überwunden werden, hier behalten die Geimpften recht. Aber auch die Gesellschaft muss gesund bleiben. Das kann nur gelingen, wenn wir uns nicht entzweien, sondern einander mit Respekt begegnen.


Beitragsbildhttps://pixabay.com/de/photos/farbe-desktop-papier-gesellschaft-3207345/


 

Julia Klär

Julia Klär studiert Theologie, Germanistik und Politikwissenschaft auf Lehramt an der Albert-Ludwigs- Universität in Freiburg. Foto: Jonas Conklin

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