Wie predigen? Dietrich Bonhoeffer über das Predigen

Wann ist eine Predigt eine Predigt? Wie ist eine Predigt aufgebaut? Über welche Texte kann ein Prediger predigen? Dietrich Bonhoeffer in einem fiktiven Interview über Tipps und Tricks, gut zu predigen.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer im Interview mit Jannik Schwab über Hermeneutik, Inhalt und Sprache einer Predigt:

Schwab: Wann ist eine Predigt eine Predigt?

Bonhoeffer: Weil die Welt durch das Wort Gottes geschaffen ist und erhalten wird, ist Gott allein durch das Wort zu erkennen. Und auch der Logos wurde durch das Wort Mensch und hat sich im Wort den Menschen ausgesagt. Deshalb ist eine Predigt dann eine Predigt, wenn wirklich Gott in ihr das Wort hat. Der Inhalt der Predigt kann somit nur das Wort Gottes an die Menschen sein, das in den Texten der Bibel dokumentiert ist. „Die Verheißung, dass Gott redet, liegt allein der Schriftgemäßheit der Predigt.“ (489) Darum ist Predigt Auslegung, nicht Anwendung eines Bibeltextes. Anwendung meint über das biblische Wort hinauszutreten, es also auf ein konkretes Thema in der jeweiligen Zeit zu beziehen.

Schwab: Wann ist eine Predigt glaubwürdig?

Bonhoeffer: Ich drehe den Spieß um: Unglaubwürdig wird eine Predigt dann, wenn der Prediger in seinem Leben anders handelt, als er predigt.

Schwab: Sie lehren, dass eine jede Rede, ob Vortrag oder Predigt, ein „Woher“ und ein „Wozu“ hat. Was ist das „Woher“ und „Wozu“ einer Predigt?

Quelle: bpk / Rotraut Forberg

Bonhoeffer: Der Auftrag der Kirche ist es, zu predigen. Der geoffenbarte Logos, Jesus Christus, hat seine Nachfolger dazu beauftragt, zu verkünden, was Gott den Menschen im Wort sagte. Das Wort Gottes ist, wie bereits erwähnt, in der Bibel dokumentiert. „Das Wort steigt in der Predigt von selbst aus der Bibel heraus und nimmt Predigtgestalt an. Christus geht als Prediger zur Gemeinde“ (504). Deshalb ist die Predigt an die Bibel gebunden. Das ist das „Woher“. Das Ziel einer Predigt ist die Kirche. „Ich predige, weil Kirche ist, dass Kirche werde.“ (482) Das ist das „Wozu“.

Schwab: Sie sagen, dass die Predigt an die Bibel gebunden ist, weil die Bibel Gottes Wort ist. Eignen sich denn alle biblischen Texte für eine Predigt?

Bonhoeffer: Die Textauswahl ist egal. Dem Prediger ist es möglich, alle biblischen Texte auszulegen, „weil ein und derselbe Gott in der ganzen Bibel redet“ (486). Somit lässt sich in jedem biblischen Wort Gott finden – auch beispielsweise in den Prophentenworte. „Wenn ich ein Prophentenwort habe, zürne nicht ich, sondern Gott. Mein Sprechen ist nicht ein Sprechen aus Zorn, sondern ein Sprechen, das im Dienste des Zornes Gottes steht.“ (497) Wichtig ist mir zu betonen, dass es in den reformierten Kirchen keinen Perikopenzwang, sondern lectio continua gibt. Unter lectio continua versteht man, dass die Bibel von Anfang bis zum Ende vorgetragen und ausgelegt wird. So kann in einem Gottesdienst ein Abschnitt aus der Bibel – vielleicht auch ein ganzes Buch – und im nächsten Gottesdienst der folgende Abschnitt vorgelesen und ausgelegt werden.

Schwab: Wie raten Sie Ihren Schülern, sich auf eine Predigt vorzubereiten?

Bonhoeffer: Meiner Ansicht nach sollen die Vikare ihre Predigten in vier Schritten vorbereiten. Zunächst sollen sie um den Heiligen Geist beten und bitten, dass Gott in seinem Heiligen Geist zu den Vikaren redet, wenn sie die Predigt schreiben. Sodann sollen die Vikare den Text meditieren. Einen Text zu meditieren, meint ihn sich persönlich Wort für Wort anzueignen. Der Philosoph Søren Kierkegaard schrieb in einem Text zu Jak 1,22: „Die Bibel lesen wie einen Liebesbrief.“ Dieser Satz beschreibt, was ich unter Aneignung der Bibelworte verstehe. Wie mir die Worte in einem Liebesbrief nachgehen, sollen mich auch die Worte eines biblischen Textes bewegen. Danach sollen die Vikare konkrete Fragen an den Text richten, in dem sie ihn mehrfach lesen und meditieren. So können die Vikare beispielsweise fragen, was der Text über Gott, den Menschen und die Beziehung zwischen Gott und den Menschen aussagen könnte. Durch das mehrfache Lesen und Fragenstellen können die Vikare den Kern des Textes, also den springenden Punkt, erkennen.

Schwab: Und nach der Predigt?

Bonhoeffer: Die Nachbereitung der Predigt wird meistens vergessen. Die Predigt muss mit einem Gebet schließen, um Gott zu danken und demütig zu sein, das Evangelium vortragen und dann predigen zu dürfen. Das Gebet kann laut, still oder während des Gottesdienstes, aber auch in der Sakristei vorgebracht werden. Außerdem ist es gut, wenn der Pfarrer nach dem Gottesdienst seine Predigt erneut liest und sie überdenkt.

Schwab: Sie waren als Vikar in Barcelona, Studentenpfarrer in Berlin sowie Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in London-Sydenham tätig und haben deshalb merklich „Predigt-Erfahrung“. Welche praktischen Predigt-Tipps haben Sie für Ihre Vikare und Kollegen spontan parat?

Bonhoeffer: Ich empfehle eine Predigt nie bei Dämmerung, sondern bei Tageslicht zu schreiben, weil der Prediger sonst „abends begeistert und morgens ernüchtert“ (487) ist. Deshalb ist es auch wichtig, die Predigt nicht auf einmal zu schreiben. Hat der Prediger überdies einen Text gewählt, über den er predigen will, so soll er den gewählten Text nicht wechseln, weil Gott in jedem Text, wie bereits erklärt, redet. Sodann ist es entscheidend, dass der Prediger die eben vorgestellten Schritte beherzigt und nicht einfach eine andere Predigt zu demselben Text liest und sich daran orientiert. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es nicht notwendig ist, exegetische Kommentare zum jeweiligen Text zu lesen.

Schwab: Gibt es einen mustertypischen Aufbau einer Predigt?

Bonhoeffer: Der typische Predigtaufbau mit Einleitung, Hauptteil und Schluss, der häufig gelehrt wird, ist zu verwerfen. Sofort ist das Thema der Predigt zu benennen: Das bedeutet für den Prediger: „Den Leuten mit dem Text ins Gesicht springen.“ (490)

„Eine Predigt wird zweimal geboren, in der Pfarrstube und auf der Kanzel.“ 

Schwab: Viele Pfarrer, so mein Eindruck, bereiten sich frühstens am Abend vor einem Gottesdienst auf die Predigt vor. Was halten Sie davon?

Bonhoeffer: Das ist zu spät. Prediger sollen „spätestens Dienstag anfangen, spätestens Freitag fertig sein!“ (488) Allerdings ist es wichtig, zu erwähnen, dass sich der Pfarrer am Sonntagmorgen Zeit nimmt, sich in Stille auf den Gottesdienst einzustimmen. Außerdem sollte an einer Predigt wenigstens zwölf Stunden gearbeitet werden. Eine unvorbereitete oder nur mäßig vorbereitete Predigt ist inhaltlich oftmals unscharf. Der Prediger versucht deshalb durch Patos, Rhetorik oder einen belehrenden und gesalbten Ton den Inhalt der Predigt zu kaschieren. Eine Predigt wird zweimal geboren, in der Pfarrstube und auf der Kanzel. Denn: Der Prediger ist frei, seinen Text zu ändern, wenn ihm eine Änderung für sinnvoll erscheint.

„Das Wort Gottes selbst ist das Ausrufezeichen, das brauchen wir nicht zu setzen.“ 

Schwab: Ihrer Ansicht nach ist der Inhalt einer Predigt entscheidend ist, nicht die Rhetorik und Sprache. Sind die Rhetorik und Sprache eines Predigers völlig egal?

Bonhoeffer: Es gibt keinen Sprach- und Rhetorikstil für eine Predigt, weil die Frage nach Stil für einen Gottesdienst fremd ist. In einer Predigt soll der Prediger einfach nur den Text auslegen, ihn nicht inszenieren. „Das Wort Gottes selbst ist das Ausrufezeichen, das brauchen wir nicht zu setzen.“ (499) In der Predigt soll die Sprache natürlich und einfach sein. Superlative, Aufblähungen, Exklamationen und Apelle sind zu vermeiden. Außerdem soll der Prediger auf einen vorbereiteten und übertriebenen Gestus verzichten.

Schwab: Pfarrer predigen in einem Gottesdienst für die Gemeinde. Welche Rolle hat die Gemeinde bei einer Predigt?

Bonhoeffer: Der Prediger soll die Gemeinde motivieren, die Bibel gründlich zu lesen, damit die Gemeinde die biblischen Texte nicht nur im Gottesdienst vernimmt. „Nach der Predigt und dem Gottesdienst ist der Pfarrer der Seelsorge bedürftig.“(524)  Deshalb hat er ein Recht, von seiner Gemeinde zu erfahren, ob das Wort Gottes in seiner Predigt hörbar wurde oder nicht. So kann der Prediger die Gemeinde bitten, nach dem Gottesdienst beispielsweise in die Sakristei zu kommen, um mit ihm über die Predigt zu sprechen.

Schwab: Worin unterscheidet sich die Homiletik in den reformierten Kirchen von derselben in der katholischen Kirche?

Bonhoeffer: „Die Kirche der Reformation ist die Kirche des Wortes. Nicht der Handlungen, des Dramas, der Mysterien.“ (495) In der katholischen Kirche hingegen sind das Opfer, Drama und Mysterium zentral. „Jeder Fehlgriff ist von höchster Gefahr für die Wirksamkeit der Handlung wie für den Priester selbst, der sich an der Gegenwart Gottes dadurch zuchtlos versündigt.“ (495)

Hintergrund:

Dieser Text ist ein fiktives Interview zwischen Dietrich Bonhoeffer und Jannik Schwab, das für eine Lokalzeitung im Februar 1936 vorgesehen ist. Die Grundlage für dieses fiktive Interview bilden Bonhoeffers Vorlesungen über Homiletik, die Bonhoeffer 1935 und 1936 im Predigerseminar in Finkenwalde, einem Vorort von Stettin, hielt. Die Evangelische Kirche der altpreußischen Union unterhielt nämlich fünf Predigerseminare, in denen Vikare in Homiletik, Katechetik, Seelsorge und Liturgik ausgebildet wurden, um nach dem Abschluss als Pfarrer tätig zu sein. Bonhoeffer leitete das Seminar in Finkenwalde und unterrichtete dort Homiletik. Dieser Text wurde als Studienleistung für die Vorlesung „Die Theorie der Homiltik“ von Prof. Dr. Bernhard Spielberg im Wintersemester 2022 eingereicht. Sätze, die in Anführungszeichen gesetzt und mit einer Seitenzahl versehen sind, stammen wörtlich aus Bonhoeffers Vorlesungen.

Literatur:

Dietrich Bonhoeffer, Vorlesung über Homiletik (1935/36), in: Ders., Werke, hg. von Eberhard Bethge u.a., Bd. 14, Gütersloh 1996, 478-530.

Jannik Schwab

Jannik Schwab studiert katholische Theologie, Geschichte und Pädagogik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und absolviert im Jahrgang der Stipendiat:innen 2022 an der katholischen Journalistenschule ifp in München eine dreijährige studienbegleitende Journalismusausbildung. Seit 2018 arbeitet er am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre in Freiburg und ist Redakteur des Blogs ,zwoelf57'.

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