Einen Schritt zurück für zwei nach vorne? Denkanstöße aus dem Buch „Warum Kirche?“ von Hans Joas

Diskussionen etwa auf dem Synodalen Weg haben sich vor allem mit dem ,Wie' der katholischen Kirche befasst. Doch braucht es überhaupt eine solche Kirche als Organisationsform des christlichen Glaubens, um Christ:in zu sein? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Soziologe Hans Joas in seinem 2022 erschienenem Buch ‚Warum Kirche?'

In zahlreichen Gemeinden wird derzeit über die Ausgestaltung und Weiterentwicklung des kirchlichen Lebens vor Ort diskutiert. ‚Kirchenentwicklung 2030‘ lautet hierfür das große Schlagwort der Erzdiözese Freiburg. Und auch über die Gemeinden und Diözesen hinweg wurde auf dem ‚Synodalen Weg‘ in den vergangenen Jahren viel diskutiert. Diskussionen, die sich vor allem mit der Ausgestaltung und damit dem Wie der katholischen Kirche in Deutschland beschäftigen. Wie kann unsere Kirche im 21. Jahrhundert aussehen? Wichtige Fragen, die angesichts der sinkenden Mitgliedszahlen, Missbrauchs- und Finanzskandale sowie des zunehmenden Mangels an pastoralen Mitarbeitenden durchaus notwendig sind.

Doch braucht es überhaupt eine solche Kirche als Organisationsform des christlichen Glaubens, um Christ:in zu sein? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Soziologe Hans Joas in seinem 2022 erschienenem Buch ‚Warum Kirche?‘.

Gesellschaft der Möglichkeiten und Individualisierung

Wir leben in einer Gesellschaft, die zahlreiche Möglichkeiten bereithält und das in allen Lebenslagen. Wir sind es gewohnt, im Supermarkt ein volles Regal vorzufinden und nach individuellem Belieben frei zwischen verschiedenen Sorten und Marken auszuwählen. Längst ist es nicht mehr nur die Ortspfarrei, die spirituelle Angebote schafft. In Zeiten von Pluralisierung, Digitalisierung und Globalisierung wird verglichen und ausgewählt. Soll es der klassische Sonntagsgottesdienst in der Gemeinde vor Ort sein? Ein Taizé Gebet? Der online gestreamte Jugendgottesdienst auf YouTube? Oder vielleicht eine Meditation, Yoga, ein Gesprächskreis oder einfach nur Sport in der Natur?

Es scheint im Trend zu liegen, so Joas, dass sich die Menschen individuell die Aspekte – beispielsweise ihres Glaubenslebens – aussuchen, die am besten zu ihnen und ihrer Lebenswirklichkeit passen. Dabei ist es augenscheinlich heute vielen egal, ob die ausgewählten Angebote dann aus der katholischen Kirche, einem privaten YouTuber-Kanal oder einer buddhistischen Strömung stammen.

Christentum ohne Kirche?

Sich auf eine Institution wie die katholische Kirche festzulegen, mag im Sinne dieses Individualisierungstrends vielen zunächst wohl nicht passungsfähig erscheinen, denn eine Institution zu haben, bringt immer auch eine Vereinheitlichung mit sich. Es werden Strukturen errichtet und Glaubens- und Sittenelemente genormt. In einer Gesellschaft der Individualität und Möglichkeiten ist diese Einschränkung des Einzelnen schwierig. Bedeutet das bereits das Ende der Institution?

Nicht unausweichlich, denn bei der Frage nach dem Warum der Institution geht es nicht nur um das einzelne Individuum. Glaube, so Joas, will weitergegeben werden. „Wer sich an einen Wert gebunden fühlt, […] wird Geschichten erzählen wollen über die Entdeckung dieses Werts und über das historische Schicksal seiner Verwirklichung.“[1] Und das nicht nur auf intellektueller Ebene, sondern auch durch historische Vorbilder und rituelle Vergegenwärtigung.

Das grundlegende Bedürfnis nach Weitergabe und Erinnern, das Joas den Gläubigen unterstellt, übersteigt die Generation, Ethnie, sogar den Staat. Ein Einzelner könnte dies nicht leisten, weswegen es vor diesem Hintergrund eine Organisationsform brauche, die über die zeitlichen und geographischen Grenzen hinweg das Glaubensgut bewahrt und weitergibt.

Hans Joas kommt bezüglich der Institutionsfrage daher zu folgendem Fazit: „Wer auf Institutionsbildung verzichtet, geht unter; wer aber den Weg zur Institution geht, muss Kompromisse schließen.“[2] Wir brauchen somit eine Institution, wenn auch als Kompromiss.  Einen Kompromiss zwischen möglichen Einschränkungen der individuellen Auslebung durch generalisierte Strukturen auf der einen Seite und Ermöglichung der Weitergabe und überzeitlichen Feierns der Botschaft auf der anderen.

Doch warum nun genau diese spezielle Organisationform? Warum Kirche? Die Beantwortung dieser Fragen ist komplex und würde die Dimensionen eines Blogbeitrags an dieser Stelle sprengen. Es sei daher auf Joas Buch verwiesen und auf die drei großen Schlagworte „Universalismus“, „Individualismus“ und „Liebesethos“, die er in seinen Überlegungen näher betrachtet. Stattdessen soll es im Folgenden um die Frage gehen, weshalb es sich lohnen könnte, dem Warum im kirchlichen Diskurs wieder mehr Betrachtung zu schenken.

Einen Schritt zurück?

Wie anfänglich erläutert, gibt es derzeit zahlreiche Diskussionen darüber, wie die Kirche in unserer heutigen Zeit gestaltet und wie mit zunehmenden Herausforderungen umgegangen werden kann. Wie umgehen mit wiederverheirateten Mitarbeitenden? Darf eine Hostie Gluten enthalten oder nicht? Muss ein Priester zölibatär leben?

Haben wir uns in den aktuellen Debatten zu sehr im Wie verloren? Sollten wir nicht viel mehr einen Schritt zurück gehen und uns nochmals die Frage nach dem Warum stellen und damit verbunden auf den eigentlichen Kern von Kirche schauen?

Erst wenn das Warum geklärt ist, kann man sich auf dieser Basis um die Frage nach dem Wie und schließlich der Ausgestaltung einzelner Strukturen Gedanken machen. Fernab von einem verharren auf Traditionen, Angst vor Machtverlust und dem Schutz bzw. der Verteidigung einer historisch gewachsenen Institution.

Nahe an der Botschaft Jesu Christi, dem eigentlichen Kern des christlichen Glaubens und damit auch an dem, was die Institution Kirche als Organisationsform des christlichen Glaubens eigentlich sein sollte.

Vielleicht würde dies helfen, damit die katholische Kirche in Deutschland wieder glaubwürdiger wird und damit verbunden die Möglichkeit erhält, in der Gesellschaft als relevantes Angebot ausgewählt zu werden. Und womöglich würden mit diesem ‚Schritt zurück‘ am Ende zwei Schritte nach vorne gegangen werden können, hin zu einer Kirche von gesellschaftlicher Akzeptanz und Relevanz auf Basis der Botschaft Jesu Christi.

 

[1] Joas, Hans: Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft. Freiburg i. Br. 2022. S. 160.

[2] Joas, Hans: Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft. Freiburg i. Br. 2022. S. 158.

Barbara Müller

Barbara Müller studiert Theologie und Biologie auf Lehramt an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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